15. Juni

Römer 11.35:

O welch eine Tiefe des Reichtums, beides, der Weisheit und Erkenntnis Gottes! Wie gar unbegreiflich sind seine Gerichte und unerforschlich seine Wege!

 

Dieser Ausruf, welcher sich dem Gläubigen bei frommer Betrachtung der Werke Gottes auf die Lippen drängt, enthält zugleich eine Warnung vor dem gottlosen Hochmut, welcher den Gerichten Gottes zu widersprechen wagt. Wenn wir vernehmen: Oh welch eine Tiefe! – so ist nichts geeigneter, alle Anmaßungen des Fleisches niederzuschlagen, als solcher Ausbruch der Bewunderung. Bisher war der Apostel den Gedanken des Wortes und des Geistes Gottes nachgegangen. Nun überwältigt ihn selbst die Tiefe des Geheimnisses. Er kann nur noch staunen und rufen, dass dieser Reichtum der Weisheit Gottes alle unsere Erkenntnis übertrifft. Wenn wir in das Nachdenken eintreten über Gottes ewige Ratschlüsse, so müssen wir dem Geist und der Zunge einen Zügel anlegen. Wie nüchtern wir auch versuchen, unsere Gedanken in den Schranken des Göttlichen Wortes zu halten –, das Ende wird doch nur Staunen sein! Wir brauchen uns auch nicht zu schämen, wenn wir schließlich nicht klüger sind als der Apostel, der bis in den dritten Himmel entzückt ward und unaussprechliche Worte vernahm (2. Korinther 12.1 & 3), und der zuletzt doch nur in demütiger Selbstbescheidung in die Knie sinken kann: Wie gar unbegreiflich sind seine Gerichte und unerforschlich seine Wege. Nach hebräischer Weise, welche denselben Gegenstand gern in doppelter Wendung ausdrückt, spricht der Apostel zuerst von den Gerichten, dann von den Wegen Gottes, d. h. von seiner Weise, zu handeln, oder seiner Ordnung, zu regieren. Je höher seine Bewundernde Rede die Majestät des göttlichen Geheimnisses erhebt, desto mehr hält sie unseren neugierigen Wissenstrieb zurück. Wir sollen also lernen, Gott nichts zu fragen, was er uns nicht in der Schrift offenbart hat. Andernfalls verwirren wir uns in ein Labyrinth, aus welchem wir keinen Ausgang finden.

(Calvin)