DIE DORDRECHTER LEHRSÄTZE

Drittes und viertes Lehrstück der Dordrechter Lehrsätze - Artikel 10-17


Artikel 10

Dass aber andere, die durch den Dienst des Evangeliums berufen sind, kommen und bekehrt werden, das ist nicht dem Menschen zuzuschreiben, als wenn er sich durch seinen freien Willen unterschiede von anderen, die mit gleich großer oder hinreichender Gnade zum Glauben und zur Bekehrung versehen sind (welches die hoffärtige Ketzerei des Pelagius behauptet), sondern es ist Gott zuzuschreiben, der, wie er die Seinen von Ewigkeit erwählet hat in Christo, dieselben auch in der Zeit wirksam beruft, mit dem Glauben und der Bekehrung beschenkt, sie aus der Macht der Finsternis rief zu seinem wunderbaren Licht, und damit sie sich nicht ihrer selbst, sondern des Herrn rühmen, wie die apostolischen Schriften immer wieder bezeugen!

 

Artikel 11

Des Weiteren, wenn Gott sein Wohlgefallen an den Erwählten ausführt und die wahre Bekehrung in ihnen wirkt, so geschieht es, dass er ihnen nicht bloß das Evangelium äußerlich predigen lässt und ihren Verstand kräftig durch den Heiligen Geist erleuchtet, damit sie recht verstehen und die Dinge unterscheiden, die des Geistes Gottes sind, sondern Er dringt auch ins Innerste des Menschen mit der kräftigen Wirkung jenes wiedergebärenden Geistes hinein. Er öffnet das Herz, was geschlossen ist. Er erweicht, was verhärtet ist. Er beschneidet, was unbeschnitten ist.  Dem Willen flößt er neue Eigenschaften ein und bewirkt, dass der Wille, der tot war, lebendig wird, der böse war, gut wird, der nicht wollte, jetzt wirklich will, der widerspenstig war, gehorsam wird. Er erweckt und stärkt diesen Willen in der Weise, dass er – wie ein guter Baum – Früchte guter Werke hervorbringen kann.

 

Artikel 11

Dies ist denn die Wiedergeburt, die Erneuerung, neue Schöpfung, Totenerweckung und Lebendigmachung, von der in der Schrift so herrlich geredet wird, welche Gott ohne uns in uns wirkt. Sie wird nicht allein zustande gebracht durch das Mittel der äußeren Predigt, nicht durch Anraten oder eine Wirkung von der Art, dass, wenn Gott sein Werk vollbracht hat, es dann noch in der Gewalt des Menschen stände, wiedergeboren zu werden oder nicht wiedergeboren zu werden, bekehrt zu werden oder nicht bekehrt zu werden. Es ist im Gegenteil eine völlig übernatürliche, sehr mächtige und zugleich sehr liebliche, wunderbare, verborgene und unaussprechliche Wirkung nach dem Zeugnis der Heiligen Schrift (welche von dem Urheber dieser Wirkung eingegeben ist), nicht kleiner noch geringer an Kraft als die Schöpfung oder Auferweckung der Toten, so dass alle diejenigen, in deren Herzen Gott auf diese wunderbare Weise wirkt, sicher unfehlbar und kräftig wiedergeboren werden und zum tätigen Glauben kommen. Und dann wird der nun erneuerte Wille nicht allein von Gott getrieben und bewegt, sondern – von Gott in Bewegung gebracht – handelt er auch selbst. Deshalb kann es auch mit Recht heißen, dass der Mensch durch die Gnade, die er empfing, glaubt und sich bekehrt.

 

Artikel 13

Die Art dieser Wirkung lässt sich von den Gläubigen in diesem Leben nicht völlig begreifen. Indessen beruhigen sie sich dabei, dass sie wissen und fühlen, durch diese Gnade Gottes von Herzen zu glauben und ihren Heiland zu lieben.

 

Artikel 14

So ist also der Glaube ein Geschenk Gottes, nicht weil er dem freien Willen des Menschen von Gott dargeboten wird, sondern weil er dem Menschen wirklich erteilt, eingehaucht und eingeflößt wird; auch nicht deshalb, weil Gott bloß die Fähigkeit des Glaubens von dem freien Willen des Menschen erwartete, sondern weil Er, der da wirket das Wollen und das Vollbringen, ja alles in allen, in dein Menschen zustande bringt beides, den Willen zu glauben und den Glauben selbst.

 

Artikel 15

Diese Gnade ist Gott niemandem schuldig; denn was könnte Er schuldig sein dem, der Ihm nichts zuvor geben kann, dass es ihm vergolten würde? Ja, was sollte Gott dem schuldig sein, der von sich selbst nichts hat als Sünde und Lüge? Wer daher diese Gnade empfängt, schuldet Gott dafür ewigen Dank und dankt Ihm auch dafür; wer diese Gnade nicht empfängt, achtet auch dieser geistlichen Dinge gar nicht und gefällt sich in seinem Wesen oder rühmt sich in Sorglosigkeit vergebens, zu besitzen, was er nicht besitzt. Übrigens muss man von denen, die ihren Glauben äußerlich bekennen und ihr Leben bessern, nach dem Beispiel der Apostel das günstigste annehmen und reden; denn das Innere des Herzens ist uns unbekannt. Für die anderen aber, die noch nicht berufen sind muss man Gott anflehen, der dem, was nicht ist, ruft, als wäre es schon und wir dürfen uns ihnen gegenüber keineswegs stolz erheben, als ob wir selbst uns ausgesondert hätten.

 

Artikel 16

Gleichwie aber der Mensch durch den Fall nicht aufgehört hat ein Mensch zu sein, mit Verstand und Willen begabt, und wie die Sünde, die durch das ganze menschliche Geschlecht hindurch gedrungen ist, die Natur des Menschen nicht aufgehoben hat, sondern verdorben und geistlich getötet, so wirket auch diese göttliche Gnade der Wiedergeburt in den Menschen nicht wie in Stöcken und Klötzen, sie vernichtet den Willen und seine Eigenschaften nicht und zwingt ihn nicht gewaltsam ungeachtet seiner selbst, sondern sie macht ihn geistlich lebendig, heilt ihn, bessert ihn, beugt ihn auf eine zugleich liebliche und mächtige Weise, so dass da, wo die Widersetzlichkeit und der Widerstand des Fleisches früher gänzlich herrschte, jetzt ein williger und aufrichtiger Gehorsam des Geistes den Sieg zu erringen anfängt. Dies ist die wahre und geistliche Wiederherstellung und Freiheit unseres Willens. Und wenn nicht der bewundernswürdige Schöpfer alles Guten auf diese Weise mit uns handelte, so hätte der Mensch keinerlei Hoffnung, sich aus dem Falle wieder zu erheben durch seinen freien Willen, durch den er sich, als er noch stand, ins Verderben gestürzt hat.

 

Artikel 17

Wie auch die allmächtige Wirkung Gottes, durch die Er unser natürliches Leben hervorbringt und erhält, nicht ausschließt, sondern erfordert den Gebrauch der Mittel, durch welche Gott nach seiner unendlichen Weisheit und Güte seine Kraft hat ins Werk setzen wollen, so geschieht es auch, dass die genannte übernatürliche Wirkung Gottes, durch welche Er uns neu gebiert, keineswegs den Gebrauch des Evangeliums ausschließt oder umstößt, welches der weise Gott zu einem Samen der Wiedergeburt und einer Speise der Seele verordnet hat. So dann, wie die Apostel und die Lehrer, die ihnen nachgefolgt sind, über diese Gnade Gottes das Volk auf gottselige Weise zu seiner Ehre und zur Unterdrückung alles menschlichen Hochmuts unterrichtet und dabei doch nicht nachgelassen haben, sie durch heilige Ermahnungen des Evangeliums unter der Übung des Wortes, der Sakramente und kirchlicher Zucht zu halten, so muss es auch jetzt weit davon entfernt sein, dass diejenigen, welche andere in der Gemeinde unterrichten oder unterrichtet werden, Gott damit zu versuchen wagten, dass sie trennten, was nach Gottes Wohlgefallen zusammenbleiben sollte. Denn durch die Erinnerungen wird die Gnade mitgeteilt, und je williger wir unser Amt ausrichten, desto herrlicher offenbart sich auch die Wohltat Gottes, der in uns wirkt, und sein Werk geht dann am besten vonstatten. Ihm allein gebührt sowohl für die Mittel wie für deren selig machende Frucht und Kraft aller Ruhm in Ewigkeit. Amen.