RÖMER

Römer Kapitel 10 Teil V

Römer 10.18-21

Ich sage aber: Haben sie es nicht gehört? Wohl, es ist ja in alle Lande ausgegangen ihr Schall und in alle Welt ihre Worte. Ich sage aber: Hat es Israel nicht erkannt? Aufs erste spricht Mose: „Ich will euch eifern machen über dem, das nicht ein Volk ist; und über ein unverständiges Volk will ich euch erzürnen.“ Jesaja aber darf wohl sagen: „Ich bin gefunden von denen, die mich nicht gesucht haben, und bin erschienen denen, die nicht nach mir gefragt haben.“ Zu Israel aber spricht er: „Den ganzen Tag habe ich meine Hände ausgestreckt zu dem Volk, das sich nichts sagen lässt und widerspricht.“

 

Ich sage aber: Haben sie es nicht gehört? – Da die Menschen die Gotteserkenntnis, welche sie zur Anrufung des göttlichen Namens treibt, aus der Predigt empfangen, so blieb noch die Frage zu erörtern, ob denn nicht den Heiden nach Gottes Absicht längst eine Kunde von Gottes Wahrheit zuteil geworden wäre. Dass Paulus mit seiner eignen Predigt sich so plötzlich an die Heiden gewendet hat, schien ja vielen eine höchst anstößige Neuerung. Also wirft er die Frage auf, ob Gott nicht längst den Heiden Sein Wort gesandt habe und somit ein Lehrer der ganzen Welt geworden sei. Denn allerdings ist es die Meinung des Apostels, dass Gottes Schule allen Völkern offen steht, und dass der Herr überall Seine Jünger sammeln will. Zum Beweise dessen führt er ein Wort aus Psalm 19.5 an. Dieses redet freilich im Zusammenhang des Psalms nicht von der apostolischen Predigt und darf auch unmöglich vermittelst einer gewaltsamen Allegorie auf dieselbe gedeutet werden. Die Knechte Gottes standen der Heiligen Schrift mit solcher Ehrfurcht gegenüber, dass sie dieselbe nicht willkürlich verdrehten, wie es ihnen gerade in den Sinn kam. Auch an unserer Stelle kann ich dem Apostel einen solchen Missbrauch nicht zutrauen. Ich nehme also an, dass er das beigebrachte Schriftwort in seinem wirklichen Sinn verstehen wollte. Dann ist sein Gedanke der folgende: Gott hat bereits von Anbeginn der Welt den Völkern Sein göttliches Wesen geoffenbart, wenn auch nicht durch die Predigt der Menschen, so doch durch das Zeugnis Seiner Kreaturen. Schwieg damals unter den Völkern die Stimme des Evangeliums, so redete doch der Wunderbau des Himmels und der Erde und pries seinen Schöpfer. So sehen wir, dass der Herr auch in den Zeiten, da Er die Gnadenstiftung Seines Bundes in den Grenzen Israels beschlossen hielt, den Heiden doch die Erkenntnis Seines Wesens nicht derartig entzogen hat, dass nicht wenigstens ein Fünklein davon geglimmt hätte. Im eigentlichen Sinn hat ja Gott sich gewiss nur Seinem auserwählten Volk offenbart; die Juden waren gleichsam Gottes Hausgenossen, zu welchen Sein Mund aus vertrauter Nähe redete. Weil aber auch die Heiden die Stimme der Himmel aus der Ferne vernahmen, so wollte Gott dadurch wie mit einem Vorspiel zeigen, dass auch ihnen eine völligere Offenbarung zugedacht war.

Ich sage aber: Hat es Israel nicht erkannt? – Nach den letzten Ausführungen ergab sich die Frage folgendermaßen: Paulus hatte dargelegt, dass man die Heiden nicht von der Offenbarung Gottes ausschließen dürfe, da sich ihnen Gott schon von Anbeginn, wenn auch dunkel und noch verhüllt, kundgetan oder ihnen wenigstens einen Geschmack von Seiner Wahrheit gegeben hat. Was musste man dann aber von Israel sagen, welches ein viel helleres Licht der Lehre empfangen hatte? Wie kommt es, dass ferne und fremde Menschen zum Licht eilen, das ihnen nur von weiter Ferne gezeigt ward, während Abrahams heiliges Geschlecht das Heil verwarf, welches ihm ganz nahe gebracht ward? Denn es galt doch Israels Auszeichnung (5. Mose 4.7-8): „Wo ist so ein herrlich Volk, zu dem Götter also nach sich tun als der Herr, dein Gott, heute zu dir sich herabneigt?“ So muss der Apostel mit gutem Grund fragen, weshalb denn der Unterricht im Gesetz, den Israel empfangen hatte, nicht eine wahre Erkenntnis mit sich brachte.

Aufs erste spricht Mose: „Ich will euch eifern machen über dem, das nicht ein Volk ist; und über ein unverständiges Volk will ich euch erzürnen.“ – Mose muss Zeugnis dafür geben, dass es nicht überraschen darf, wenn Gott den Heiden vor Israel den Vorzug gab. Der Spruch stammt aus jenem berühmten Liede, in welchem Gott den Juden ihre Untreue vorwirft und ihnen als Strafe ankündigt, dass Er sie zur Eifersucht reizen will, indem Er die Heiden in Seinen Bund aufnimmt. Denn Israel war zu selbst gemachten Göttern abgefallen. So ruft Gott ihnen zu: Ihr habt mich verachtet und verworfen, habt meine Ehre den Götzen gegeben, so will ich mich dafür rächen, will an eurer statt Heiden berufen und ihnen übertragen, was ich zuvor euch gegeben habe. Dies geht natürlich, dass der Herr Sein Volk Israel verwirft. Daher kommt dann die Eifersucht, von welcher Mose spricht: Der Grund besteht darin, dass Gott zu Seinem Volk gemacht hat, das nicht Sein Volk war, dass Er ein neues Volk sich aus dem Nichts erweckt hat, welches nun den Platz einnimmt, von welchem Israel verstoßen ward – ganz ebenso, wie die Juden den wahren Gott verlassen und sich andern Göttern hingegeben hatten. Dass aber gerade zur Zeit der Ankunft Christi die Juden nicht solch grobem und äußerlichem Götzendienst abgefallen waren, gereicht ihnen nicht zur Entschuldigung, denn sie haben den Dienst Gottes mit ihren selbst erwählten Werken verunreinigt, ja sie haben endlich Gott den Vater, der sich ihnen in Seinem eingeborenen Sohne anbot, verworfen und damit der denkbar schlimmsten Gottlosigkeit sich schuldig gemacht.

Jesaja aber darf wohl sagen: „Ich bin gefunden von denen, die mich nicht gesucht haben, und bin erschienen denen, die nicht nach mir gefragt haben.“ – Die folgenden Weissagungen lauten noch klarer. Darum macht der Apostel ausdrücklich darauf aufmerksam, dass Jesaja so kühn und frei reden darf: Der Prophet führt keine bildliche und verhüllte Sprache, sondern verkündet rückhaltlos und deutlich, dass die Heiden berufen werden sollen. Was Paulus in zwei getrennten Sprüchen gibt, bildet bei Jesaja einen lückenlosen Zusammenhang (Jesaja 65.1-2). Gott verkündigt, es werde die Zeit kommen, da Er Seine Gnade werde zu den Heiden kehren. Und er sagt sofort, weshalb es so kommen muss: Gott ist es müde geworden, den unerträglichen, unaufhörlichen Widerspruch Israels weiter zu ertragen. Darum spricht Er: Die früher nach mir nicht gefragt und meinen Namen verachtet haben, haben mich jetzt gesucht. Diese Vergangenheitsform weist freilich in die Zukunft, aber sie ist gewählt, um auszudrücken, dass die Weissagung schon so gut wie geschehen, also völlig unumstößlich sei. Die mich nicht gesucht haben, haben erreicht, was sie selbst nicht hofften und wünschten: Sie haben mich gefunden. Allerdings weiß ich, dass manche Rabbiner diese ganze Prophetenstelle dahin verdrehen, als stünde hier eine Verheißung Gottes, dass Israel noch aus seinem Abfall umkehren würde. Dass aber von Leuten die Rede ist, die nicht aus Israel stammten, beweist die Fortsetzung (Jesaja 65.1): Ich will mich finden lassen von einem Volke, in welchem mein Name nicht angerufen ward. Der Prophet weissagt also ohne Zweifel, dass in Gottes Hausgenossenschaft neu aufgenommen werden sollen, die sonst nicht dazu gehörten. Diese Berufung der Heiden ist ein Vorbild für die Berufung aller Gläubigen. Ist doch niemand, welcher der Gnade Gottes zuvorkäme. Wir alle ohne Ausnahme werden durch Sein freies Erbarmen aus dem tiefsten Abgrund des Todes gerissen, wo keine Erkenntnis Gottes war, keine Absicht, Ihm zu dienen, überhaupt kein Gefühl für seine Wahrheit.

Zu Israel aber spricht er: „Den ganzen Tag habe ich meine Hände ausgestreckt zu dem Volk, das sich nichts sagen lässt und widerspricht.“ – Gott sagt, Er habe zu Israel Seine Hände ausgestreckt, denn Er hat es fortwährend mit Seinem Worte zu sich geladen und hat nie aufgehört, es mit allerlei Wohltaten zu sich zu locken. Dies sind ja die beiden Mittel, die Gott überall gebraucht, um Menschen zu sich zu rufen und ihnen Seine Güte zu beweisen. Insbesondere aber denkt der Prophetenspruch an die göttliche Lehre, welche Israel verachtet hat. Diese Verachtung ist umso abscheulicher, je herrlicher die väterliche Fürsorge des Gottes sich offenbarte, der die Menschen zu sich einlud. Dass dieser Gott die Hände ausbreitet, ist eine sehr nachdrückliche Redeweise; denn wenn Gott durch das Wort Seiner Diener unsere Seligkeit schaffen will, so streckt Er uns damit nicht weniger die Hände entgegen, als wenn ein Vater seinen Sohn liebevoll in seinen Schoß ziehen will und ihn mit den Armen umfängt. Dabei heißt es „den ganzen Tag“, genauer vielleicht noch: „täglich“. So kann man sich nicht wundern, wenn Gott endlich müde wird, Gutes zu tun, da selbst anhaltende Güte nichts ausrichtet (vergleiche auch Jeremia 7.13 & 11.7). Den Unglauben des Volkes beschreiben zwei Worte, nämlich erstens: Sas Volk lässt sich nichts sagen - es leistet beharrlichen Widerstand. Dann aber zweitens: Es widerspricht sogar und verachtet die Mahnungen der heiligen Propheten geflissentlich in zügellosem Übermut und mit einem rebellischen und verbitterten Geiste.