RÖMER

Römer Kapitel 10 Teil I

Römer 10.1-4

Liebe Brüder, meines Herzens Wunsch ist, und ich flehe auch zu Gott für Israel, dass sie selig werden. Denn ich gebe ihnen das Zeugnis, dass sie eifern um Gott, aber mit Unverstand. Denn sie erkennen die Gerechtigkeit nicht, die vor Gott gilt, und trachten, ihre eigene Gerechtigkeit aufzurichten, und sind also der Gerechtigkeit, die vor Gott gilt, nicht untertan. Denn Christus ist des Gesetzes Ende; wer an ihn glaubt, der ist gerecht.

 

Wiederum können wir sehen, welchen Eifer der Apostel daran wendet, allen Anstößen zu begegnen. Gern möchte er die unumgängliche Härte seiner Ausführungen über die Verwerfung der Juden mildern. Darum bezeugt er, wie zuvor schon (9.1 ff.), seine Liebe zu Israel; zum Beweise solcher Liebe muss es dienen, dass Paulus vor Gottes Angesicht für die Seligkeit Israels fleht. Solche Fürbitte erwächst ja nur aus echter Zuneigung. Immerhin mag auch ein weiterer Grund den Apostel genötigt haben, der Liebe gegen seine Stammesgenossen Ausdruck zu geben; denn die Juden hätten seine Lehre niemals angenommen, wenn sie ihn für ihren geflissentlichen Feind hätten halten müssen, und auch den Heiden hätte sein Abfall vom väterlichen Gesetze den Verdacht erregen müssen, dass der eigentliche Grund nur Gehässigkeit gewesen wäre.

Denn ich gebe ihnen das Zeugnis, dass sie eifern um Gott, aber mit Unverstand. – So muss ja die Liebe des Apostels wohl echt sein. Denn er hatte Grund, Mitleid walten zu lassen, nicht aber Hass. Sah er doch, dass nicht Bosheit, sondern Unwissenheit sie irreleitete, ja dass ihr Verfolgungseifer wider Christi Königreich aus einer Art von Eifer für Gott hervorging. Nebenbei lernen wir hier, wohin unser so genannter guter Wille uns führt, wenn wir Ihm folgen. Wie oft entschuldigen wir uns damit, dass wir dieses und jenes nicht aus bösem Willen getan haben! Wollen wir aber auch die Juden entschuldigt halten, dass sie Christus gekreuzigt, wider seine Apostel gewütet und alles daran gesetzt haben, das Evangelium zu vernichten und zu verstören? Wollen wir wahrhaft fromm sein, so sollen wir lieber bedenken, dass wirkliche Frömmigkeit sich überall an Gottes Wort hält. Auf dem Wege dieses Wortes zu hinken, ist besser als außerhalb desselben zu laufen, wie Augustinus sagt.

Denn sie erkennen die Gerechtigkeit nicht, die vor Gott gilt, und trachten, ihre eigene Gerechtigkeit aufzurichten, und sind also der Gerechtigkeit, die vor Gott gilt, nicht untertan. – Ihr unüberlegter Eifer führt sie auf Irrwege, weil sie ihre eigne Gerechtigkeit aufrichten wollen. Dieses törichte Selbstvertrauen kommt daher, dass sie die wahre göttliche Gerechtigkeit nicht kennen. Welcher Gegensatz zwischen der „Gerechtigkeit Gottes“ und der Gerechtigkeit der Menschen! Nebeneinander können beide nicht bestehen; denn sie schließen sich gegenseitig aus: „Gottes Gerechtigkeit“ (das heißt tatsächlich: „die von Gott geschenkte Gerechtigkeit“) fällt dahin, sobald die Menschen ihre eigne Gerechtigkeit aufrichten, die sie selbst hervorbringen und mit welcher sie Gott unter die Augen treten wollen. Solcher Sinn unterwirft sich der „Gerechtigkeit Gottes“ nicht, sondern sucht die Rechtfertigung bei sich selbst. Denn wer die von Gott geschenkte Gerechtigkeit empfangen will, muss vor allen Dingen darauf verzichten, in sich selbst Gerechtigkeit zu finden. Nur, dass wir keine Gerechtigkeit haben, wird uns treiben, Gerechtigkeit außer uns zu suchen. Wie nun die Menschen sich mit der „Gerechtigkeit Gottes“ bekleiden können, haben wir früher dargelegt (zu 3.21 & 3.24 usw.): Christi Gerechtigkeit wird uns zugesprochen.

Denn Christus ist des Gesetzes Ende. – Man könnte hier auch übersetzen: Des Gesetzes Ziel und Erfüllung. Aber die andere (hier wiedergegebene) Übersetzung ist allgemein angenommen und auch ihrerseits nicht unpassend. Der Leser kann sie also durchaus aufrechterhalten. – Paulus begegnet hier einem Einwand, den man erheben konnte: Man konnte doch sagen, die Juden hätten mit ihrem Eifer um das Gesetz den rechten Weg innegehalten. Demgegenüber zeigt der Apostel, dass es ein verkehrtes Verständnis des Gesetzes ist, wenn man durch Gesetzeswerke die Rechtfertigung zu erlangen sucht; denn das Gesetz ist uns im Gegenteil dazu gegeben, uns mit der Hand zu einer anderen Gerechtigkeit zu leiten. Alles, was es lehrt, was es vorschreibt, was es verheißt, hat immerzu Christus zum Richtpunkt, und deshalb muss auch alles Einzelne in Ihm dahin ausgerichtet werden. Dies geschieht so, dass das Gesetz uns alle eigne Gerechtigkeit abspricht, zur Anerkennung unserer Sünde zwingt, und uns nichts übrig lässt, als dass wir Christus bitten, uns Seine Gerechtigkeit zu schenken. Der Fehler der Juden bestand also darin, dass sie das Hilfsmittel zur Gerechtigkeit in ein Hindernis verkehrten. Sie verstümmelten Gottes Gesetz, indem sie Seinen Geist austrieben und den Leichnam des toten Buchstabens übrig behielten. Allerdings verspricht das Gesetz denen einen Lohn, welche es vollständig halten. Tatsächlich wird dadurch aber jedermann schuldig gesprochen, und an Stelle der Gesetzesgerechtigkeit bietet Gott eine andere Gerechtigkeit in Christus, welche nicht durch Verdienst der Werke erworben werden kann, sondern als ein freies Geschenk im Glauben hingenommen werden muss. In dieser Weise zeugt das Gesetz für die Gerechtigkeit des Glaubens (vergleiche 3.21). Unsere Stelle ist darum so wichtig, weil sie deutlich ausspricht, dass das Gesetz in allen seinen Teilen auf Christus zielt. Die wirkliche Bedeutung und Absicht des Gesetzes kann niemand richtig verstehen, der nicht diesen Zielpunkt stetig im Auge behält.