RÖMER

Römer Kapitel 9 Teil VII

Römer 9.24-29

Welche er berufen hat, nämlich uns, nicht allein aus den Juden, sondern auch aus den Heiden. Wie er denn auch durch Hosea spricht: „Ich will das mein Volk heißen, das nicht mein Volk war, und meine Geliebte, die nicht die Geliebte war.“ “Und soll geschehen: An dem Ort, da zu ihnen gesagt ward: ´Ihr seid nicht mein Volk´, sollen sie Kinder des lebendigen Gottes genannt werden.“  Jesaja aber schreit für Israel: „Wenn die Zahl der Kinder Israel würde sein wie der Sand am Meer, so wird doch nur der Überrest selig werden; denn Gott wird eine kurze und strenge Rede führen, ja kurz wie des Herrn Verfahren auf Erden sein.“ Und wie Jesaja zuvor sagte: „Wenn uns nicht der Herr Zebaoth hätte lassen Samen überbleiben, so wären wir wie Sodom geworden und gleichwie Gomorra.“

 

Welche er berufen hat, nämlich uns, nicht allein aus den Juden, sondern auch aus den Heiden. – Aus der bisherigen Erörterung über die Freiheit des göttlichen Erwählungsratschlusses ergab sich zweierlei: Erstens bleibt Gottes Gnade nicht derartig in den Grenzen des jüdischen Volkes beschlossen, dass sie nicht auch andere Völker, ja den ganzen Erdkreis erreichen könnte; zweitens ist die Gnade auch nicht in dem Sinne an die Juden gebunden, dass sie allen leiblichen Kindern Abrahams ohne Ausnahme gehören müsste. Denn wenn Gottes Erwählung allein an dem Beschluss Seines Wohlgefallens hängt, so findet sie überall dort ihre Stelle, wohin Sein Wille sich wendet. Steht also die Erwählung fest, so ist schon der Weg zu den Wahrheiten geebnet, welche Paulus einerseits über die Berufung der Heiden, andererseits über die Verwerfung der Juden vorgetragen hat, deren erstere unerhört und neu, deren letztere vollends unmöglich und Gottes unwürdig erscheinen musste. Weil aber die letztere den allergrößten Anstoß in sich barg, so wendet sich die Rede zuerst zu der ersten immerhin erträglicheren Behauptung. Paulus sagt, dass die Gefäße der Barmherzigkeit, welche Gott sich zur Verherrlichung Seines Namens auserwählt, gleicherweise aus den Heiden wie aus den Juden genommen werden. Dass Gott keinen Unterschied zwischen den Völkern macht, dafür dient zum Beweise, dass Er Seine Gläubigen berufen hat … nicht allein aus den Juden, sondern auch aus den Heiden. Wenn unsere heidnische Herkunft den Herrn nicht gehindert hat, uns zu berufen, so sieht man ja, dass die Heiden keineswegs vom Reiche Gottes und dem Bunde des Heils ausgeschlossen sein sollen.

Wie er denn auch durch Hosea spricht. – Nunmehr folgt ein Nachweis, dass die Berufung der Heiden durchaus nicht als eine überraschende Neuerung gelten darf: Denn die Weissagungen der Propheten haben seit langen Zeiten von ihr gezeugt. Der Sinn ist ganz klar. Schwierigkeiten macht es nur, den ursprünglichen Sinn des Hosea-Spruches mit der Meinung des Paulus in Übereinstimmung zu bringen, scheint es doch zweifellos, dass der Prophet Hosea in seinem Zusammenhange von Israel redet: Gott ist durch die Sünden Israels beleidigt, und erklärt, dass Er dasselbe nicht mehr als Sein Volk anerkennt. Dann aber wendet Er sich zu einem Worte neuen Trostes: Aus Nichtgeliebten will ich Geliebte machen, und mein Volk aus dem, das nicht mein Volk ist. Paulus aber scheint diese Worte, die ausdrücklich den Juden gelten sollen, irrtümlich auf die Heiden zu deuten. Um hier eine Lösung zu finden, stellen wir folgendes zur Erwägung. Vielleicht ist es doch nicht ausgeschlossen, den Trostspruch des Hosea auch in Seinem ursprünglichen Sinne nicht bloß auf die Juden, sondern auch auf die Heiden zu beziehen. Es ist doch durchaus nicht unerhört, dass ein Prophet, nachdem er den Juden um ihrer Sünden Willen Gottes Rache angekündigt, seine Gedanken nunmehr auf das Reich Christi richtet, welches den ganzen Erdkreis umspannen soll. Ist doch in Unglück und Sünde des Volkes Christus tatsächlich die einzige Zuflucht; und der einzig wirkliche Trost besteht darin, dass man den Sündern, welchen Gottes Zorn droht, Christus vor Augen stellt. Die Propheten haben doch, wie wir sehen, die Gepflogenheit, das Volk, wenn es unter der Drohung des göttlichen Zorns gedemütigt ist, zu Christus zu rufen, dem einzigen Zufluchtsort der Verzweifelten. Wo aber Christi Königreich errichtet wird, da erhebt sich zugleich jenes himmlische Jerusalem, in welchem sich Bürger aus aller Welt zusammenfinden. Bei unserm Prophetenspruch fordert der Umstand eine besondere Beachtung, dass Israel ja aus der Gemeinschaft mit Gott verstoßen und dadurch den Heiden gleichgemacht und mit der übrigen Menschheit völlig in eine Reihe gestellt war. Nun ist Raum geschaffen für ein neues Israel, für eine Gemeinde, welche Gottes Gnade aus allen Völkern sammelt. So wird erfüllt: „Ich will das mein Volk heißen, das nicht mein Volk war, und meine Geliebte, die nicht die Geliebte war.“ Die letztere Wendung erklärt sich daraus, dass der Prophet (Hosea 1.6) eine Tochter hatte mit Namen „Lo-Ruhama“, das heißt die nicht Geliebte. Diesen Namen hatte er ihr geben müssen, weil diese Tochter das von Gott verworfene Volk darstellen sollte. – Übrigens soll man sich nicht wundern, dass die Schrift von den Auserwählten, welche doch kraft des ewigen Ratschlusses immer Gottes Kinder sind, aussagt, sie seien bis zu einem bestimmten Zeitpunkte nicht Gottes Volk und nicht Geliebte gewesen. Diese Redeweise trifft für die Zeit zu, in welcher die Auserwählten noch nicht die Berufung erfahren haben, und sie gibt uns einen Fingerzeig, dass wir unser Urteil hintanhalten sollen: Wir können über Gottes Erwählung nur insoweit urteilen, als sie sich in ihren Zeichen kundtut. So hat Paulus den Ephesern zugerufen (Epheser 1.4), dass Gott sie erwählt habe, ehe der Welt Grund gelegt war; und doch heißt es bald darauf von denselben Leuten (Epheser 2.5 & 2.12), dass sie Kinder des Zorns und Gott fremd waren. Das galt für die Zeit, in welcher sie die Liebe des Gottes noch nicht erfahren hatten, der sie doch mit ewigem Erbarmen umfasste. „Nichtgeliebte“ sind wir so lange, als uns Gott mehr Seinen Zorn als Seine Liebe bezeugt. Und dies ist beim ganzen Menschengeschlecht der Fall, solange die Annahme zur Kindschaft noch nicht in der Zeit vollzogen ist.

Jesaja aber schreit für Israel: „Wenn die Zahl der Kinder Israel würde sein wie der Sand am Meer, so wird doch nur der Überrest selig werden. – Jetzt geht der Apostel zum zweiten Stück seiner Erörterung über, zu Israels Verwerfung, die er bisher zurückgestellt hatte, um die Juden nicht von vornherein vor den Kopf zu stoßen. Paulus sagt nicht, dass Jesaja spricht, sondern dass er schreit. So wird die Aufmerksamkeit noch mehr erregt. Die Worte des Propheten wenden sich offensichtlich gegen Israels gar zu große fleischliche Zuversicht. Es ist ja schrecklich zu hören, dass aus der ungeheuren Menge nur eine so kleine Zahl selig werden soll. Wenn der Prophet diese Verwüstung des Volkes beschreibt, so will er ja freilich bei den Gläubigen nicht die Meinung erwecken, dass Gottes Bund gänzlich dahin gefallen sei. Er lässt noch eine Hoffnung auf Gnade bestehen; aber er beschränkt dieselbe auf eine sehr geringe Schar. Allerdings zielt die Weissagung des Propheten zunächst auf die äußeren Schicksale seines Volkes in der babylonischen Gefangenschaft, in welche eine ungeheure Menge von Juden hineinging, und aus welcher der Herr nur eine verhältnismäßig geringe Zahl erretten wollte. Aber diese äußere Wiederherstellung war doch nur Spiegelbild und Anfang der geistlichen Erneuerung der Gemeinde Gottes, die in Christus geschieht.

Denn Gott wird eine kurze und strenge Rede führen, ja kurz wie des Herrn Verfahren auf Erden sein. – Das heißt, sein richterliches Verfahren wird vernichtend wirken. In der Schrift bedeutet „Rede“ („Wort“) stets so viel wie Sache oder Geschehnis. „Kurze und strenge Rede“ heißt also: Vernichtung, Abbruch, Zerstörung. Mit diesem einfachen Sinne können wir uns begnügen. Der kleine Rest, der bei dieser Vernichtung übrig bleibt, wird aber doch das Werk der Gerechtigkeit Gottes sein, das heißt, er wird dazu dienen, Seine Gerechtigkeit auf dem ganzen Erdkreis zu bezeugen.

[Anmerkung: Dass die Worte hier anders lauten als bei Jesaja selbst, kommt daher, dass Paulus dieselben in der Form der alten griechischen Übersetzung zitiert hat, welche von dem wirklichen Sinne des hebräischen Textes stark abweicht. Dieser Zwiespalt hat auch in Calvins Übersetzung und Auslegung eine gewisse Unsicherheit gebracht. Unsere Wiedergabe hält sich an das Wesentliche.]

Und wie Jesaja zuvor sagte: „Wenn uns nicht der Herr Zebaoth hätte lassen Samen überbleiben, so wären wir wie Sodom geworden und gleichwie Gomorra.“ – Ein weiteres Zeugnis schon aus dem ersten Kapitel des Jesaja, in welchem der Prophet die Verwüstung seines Volkes beklagt, die zu seiner Zeit geschehen war. Ist aber solches einmal geschehen, so ist es ja nichts Neues mehr. Denn Israels Vorzug stammt lediglich von seinen Vorfahren. Diese aber haben eine solche Behandlung erfahren, dass der Prophet klagen muss, sie seien geschlagen und ihr Geschick sei fast dem von Sodom und Gomorra gleich. Nur der Unterschied bestand, dass Gott einige noch hatte als Samen übrig bleiben lassen, um Israels Namen zu erhalten und vor völliger Vergessenheit zu bewahren. Denn Seiner Verheißung kann Gott nie vergessen; darum gibt Er inmitten der strengsten Strafe noch immer der Barmherzigkeit Raum.