RÖMER

Römer Kapitel 8 Teil V

Römer 8.15-18

Denn ihr habt nicht einen knechtischen Geist empfangen, dass ihr euch abermals fürchten müsstet; sondern ihr habt einen kindlichen Geist empfangen, durch welchen wir rufen: Abba, lieber Vater! Derselbe Geist gibt Zeugnis mit unserm Geist, dass wir Kinder Gottes sind. Sind wir denn Kinder, so sind wir auch Erben, nämlich Gottes Erben und Miterben Christi, so wir anders mit leiden, auf dass wir auch mit zur Herrlichkeit erhoben werden. Denn ich halte es dafür, dass dieser Zeit Leiden der Herrlichkeit nicht wert sei, die an uns soll offenbart werden.

 

Nun verweilt der Apostel dabei, wie diese Gewissheit des Glaubens, in welcher die Gläubigen ihre Ruhe finden sollen, eine weitere Stärkung empfängt: Es geschieht durch eine besondere Wirkung des Geistes, der uns nicht gegeben ward, um uns in der Furcht hin und her zu werfen oder mit Ängstlichkeit zu quälen, sondern um alle Unruhe zu stillen, unserm Geist den Frieden zu schenken und uns zu freier und fröhlicher Anrufung Gottes zu erwecken. Der Apostel hält sich also weniger an das erste Glied seiner bisherigen Beweisführung, dass man ohne Gottes Geist kein Kind Gottes sein könne. Er verweilt vielmehr bei der Kehrseite und redet von Gottes väterlicher Liebe, welche den Seinen die noch anhaftende Schwachheit des Fleisches und ihre Fehler verzeiht. Den Glauben an diese Liebe gründet er auf den Geist der Kindschaft, welcher uns ja nicht Mut zu kindlichem Gebet einflößen könnte, wenn er uns nicht zugleich der freien, gnädigen Vergebung gewiss machte. Um nun in diesem Stück besonders deutlich zu sein, unterscheidet Paulus einen doppelten Geist: Den Geist der Knechtschaft, den wir aus dem Gesetz schöpfen können, und den Geist der Kindschaft, welcher aus dem Evangelium stammt. Der erste ward einst gegeben, und man musste sich fürchten. Den andern empfangen wir jetzt, und unsere Seele wird stille. Es ist offensichtlich, wie dieser Gegensatz unsere Heilsgewissheit stärken muss. Desselben Kontrastes bedient sich auch der Verfasser des Hebräerbriefes (12.18, 12.22, 12.24): Ihr seid nicht gekommen zu dem Berge Sinai, wo alles so schrecklich war, dass das Volk, wie von einer gegenwärtigen Predigt des Todes betroffen, bat, es möchte ihm nichts mehr gesagt werden, und Moses selbst gestehen musste, dass er sich fürchte; sondern ihr seid gekommen zu dem Berge Zion und zu der Stadt des lebendigen Gottes, dem himmlischen Jerusalem, wo Jesus ist, der Mittler des Neuen Bundes usw. Aus dem „abermals“ schließen wir, dass Paulus an unserer Stelle das Evangelium dem Gesetz gegenüberstellen will: Solche unschätzbare Wohltat verdanken wir dem Sohne Gottes, dessen Ankunft uns für alle Zukunft von der drückenden Herrschaft des Gesetzes frei machte. Doch darf man daraus weder schließen, dass vor Christi Ankunft noch niemand den Kindschaftsgeist besessen habe, noch dass alle, die das Gesetz vernahmen, lediglich Knechte und durchaus nicht Kinder gewesen seien. Paulus vergleicht nur im Allgemeinen die Ordnung des Gesetzes mit der Ordnung des Evangeliums, und er fragt gar nicht, wie es mit einzelnen Persönlichkeiten bestellt gewesen. Gewiss werden die Gläubigen hier auch erinnert, wie viel gnädiger Gott mit uns handelt als einst mit den Vätern unter dem Alten Bunde. Aber bei alledem hat der Apostel nur die äußere Ausbreitung des Evangeliums im Auge. Nur unter diesem Gesichtspunkte stehen wir höher als die Väter. Rein persönlich betrachtet war der Glaube eines Abraham, Moses oder David sicher weit größer als der unsrige; aber diese alle standen noch unter der erziehenden Vorbereitung und hatten deshalb die Freiheit, die uns eröffnet ist, noch nicht erlangt. Zugleich wird zu bedenken sein, dass Paulus diesen Unterschied zwischen den Knechten des Gesetzesbuchstabens und den Gläubigen, welchen der himmlische Meister Christus neben dem äußeren Schall des Wortes auch die innere wirksame Leitung des Geistes geschenkt hat, nur in Rücksicht auf die falschen Apostel und ihre gesetzliche Lehrweise so scharf betont. An sich birgt ja das Gesetz auch den Bund der Gnade in sich; aber diesen Inhalt denkt Paulus jetzt einmal hinweg. Er fasst im Gegensatz zum Evangelium jetzt nur das eigentlichste Wesen des Gesetzes ins Auge, welches darin besteht, zu befehlen und zu verbieten und die Übertreter in der Furcht des Todes gefangen zu halten. Das Gesetz kommt für ihn nach derjenigen Seite seines Inhalts in Betracht, in der es den Gegensatz zum Evangelium darstellt. Anders ausgedrückt: Paulus denkt an das bloße Gesetz, sofern Gott in demselben mit den Menschen einen Bund der Werke geschlossen hat. Bezüglich der einzelnen Persönlichkeiten also müssen wir bestimmt behaupten, dass im jüdischen Volke vor und nach Erlass des Gesetzes die Erleuchtung der Frommen durch einen und denselben Geist geschehen ist, welcher immer und überall derselbe bleibt. Auf das Siegel dieses Geistes, welcher das Angeld auf das ewige Leben ist, gründet sich allein die Hoffnung des Heils. Nur der Unterschied besteht, dass im Reiche Christi der Geist freigebiger und reichlicher ausgegossen ward. Sieht man namentlich die Offenbarung der Lehre an, so muss man sagen, dass erst Christi Erscheinung im Fleisch die volle Gewissheit des Heils brachte; denn so groß die Klarheit des Evangeliums ist, so dicht ist die Hülle der Dunkelheit, welche über dem Alten Testament liegt. Betrachtet man das Gesetz an sich, so kann es nichts, als die Menschen der Knechtschaft und dem Tode ausliefern. Denn es verheißt alles Gute nur bedingungsweise und droht allen Übertretern den Tod. Wie also unter dem Gesetz der Geist der Knechtschaft herrschte, welcher das Gewissen in Schrecken hielt, so herrscht unter dem Evangelium der Geist der Kindschaft, welcher unsere Seelen fröhlich macht durch das Zeugnis der Gnade.

Durch welchen wir rufen. – Paulus geht aus der zweiten Person in die erste über: Ihr habt den Geist empfangen, durch welchen wir rufen. So wird deutlich, dass ein und derselbe Geist in allen Gläubigen waltet.

Abba, lieber Vater! – Nachdrücklich, in doppelter Sprache, wird der Vatername den Gläubigen zweimal in den Mund gelegt. Denn Gottes Barmherzigkeit hat sich in der ganzen Welt kundgemacht und wir in allen Sprachen angerufen. So klingen die Stimmen aller Völker in eins. Es ist kein Unterschied mehr zwischen Juden und Griechen, beide sind Glieder desselben Leibes geworden. Denselben Gedanken gibt der Prophet Jesaja in fast entgegen gesetzter Form (19.18), wenn er sagt, dass alle Völker sich der Sprache Kanaans bedienen werden. Er denkt ja dabei nicht an die äußere Form der Sprache, sondern daran, dass die Herzen einig sein werden, Gott zu preisen, und von dem gleichen Eifer erfüllt, Ihm rein und wahr zu dienen. Das Gebet der Frommen nennt nun der Apostel ein „Rufen“. Denn sie beten ohne Zweifelmut, und wagen, furchtlos und hell ihre Stimme zum Himmel zu erheben. Zwar auch unter dem Gesetz haben die Gläubigen Gott als ihren Vater angerufen, aber noch nicht mit voller und freier Zuversicht, da der Vorhang ihnen noch den Zugang in Allerheiligste versperrte. Jetzt aber ward uns durch Christi Blut die Tür aufgetan; nun dürfen wir als Gottes Hausgenossen mit vollem Munde rühmen, dass wir Kinder Gottes sind. Daher stammt unser „Rufen“. Nun ist die Weissagung erfüllt (Hosea 2.25): Ich will zu ihnen sagen: „Du bist mein Volk“, und sie werden antworten: „Du bist mein Gott.“ Denn je klarer die Gnadenverheißung, umso größer ist der Freimut des Gebets.

Derselbe Geist gibt Zeugnis mit unserm Geist. – Der Apostel sagt nicht einfach: „Unserm Geist“, sondern „mit unserm Geist“. Er will dadurch zu verstehen geben, dass der Geist Gottes uns ein solches Zeugnis ablegt, welches unter Seiner Führung und Leitung auch unsern Geist die gewisse Zuversicht fassen lässt, dass die Annahme zur Gotteskindschaft feststehe. Solcher Glaube würde aus unserm Geiste nicht erwachsen, wenn ihn Gottes Geistesleitung nicht in uns erweckte. Übrigens will unser Satz den vorangehenden erläutern und begründen, denn wenn der Geist uns bezeugt, dass wir Gottes Kinder sind, so erweckt Er dadurch die Zuversicht, dass wir Gott als Vater anrufen. Wenn allein die Zuversicht uns den Mund öffnet, so wird ja die Zunge stumm zum Gebet sein, wenn nicht der Geist dem Herzen von der Vaterliebe Gottes Zeugnis gibt. Denn der Grundsatz steht durchaus fest, dass wir nur dann recht zu Gott beten, wenn wir Ihn mit dem Munde Vater nennen und dabei im Herzen überzeugt sind, dass der Mund recht redet. Umgekehrt gibt es kein sichereres Kennzeichen für die Echtheit unseres Glaubens als die Anrufung Gottes. – Mit besonderem Nachdruck wollen wir endlich noch anmerken, dass unser Spruch eines der klarsten Zeugnisse für die Möglichkeit einer vollen und unbedingten Heilsgewissheit ist. Er gibt auch Antwort auf die ungläubige Frage, woher denn der Mensch wissen könne, was Gott über ihn beschlossen habe. Wir haben darüber nicht irgendwelche unsichere Vermutungen, sondern der Geist Gottes tut es uns kund. Genauer führt der Apostel diesen Gegenstand im ersten Brief an die Korinther aus (2.9 & 10; 12.3). Es steht also fest, dass niemand ein Kind Gottes sein kann, der es nicht fest glaubt. Und dieser Glaube ist eine vollkommene Gewissheit (1. Johannes 5.19 & 20): „Wir wissen, dass wir von Gott sind.“

Sind wir denn Kinder, so sind wir auch Erben. – Hier finden wir jetzt weiter den entscheidenden Beweis dafür, dass wir selig sind, weil Gott unser Vater ist. Kinder müssen einmal erben, und wenn Gott uns als Kinder angenommen hat, so ist uns auch eine Erbschaft von Ihm ausgesetzt. Worin diese besteht wird alsbald angedeutet: sie ist himmlisch, also unvergänglich und ewig, und wird uns in Christus mitgeteilt. So weicht alle Ungewissheit, und unser Besitz muss wohl über alle Maßen reich sein; denn wir erben zusammen mit Gottes eingeborenem Sohne. Eben diese Größe und Herrlichkeit unseres Erbes will Paulus uns ins Herz prägen, damit solche Aussicht uns zufrieden und tüchtig mache, die Lockungen der Welt zu verachten und alle Leiden dieser Zeit geduldig zu ertragen.

So wir anders mit leiden. – Christi Miterben werden wir sein, wenn wir Ihm auf dem Wege zu Seiner Erbschaft folgen. Dass er hier von Christus spricht, das soll zur Ermahnung hinüberleiten. Der Gedankengang ist so: Gottes Erbe ist unser, weil Er uns in Gnaden zu Kindern angenommen hat; um es dem Zweifel zu entziehen, hat Er es Christus bereits als Besitz übertragen; wir haben an Christus und Seinem Geschick Anteil: Da Er aber durch das Kreuz zur Erlangung des Erbes kam, so ist das auch unser Weg. Dieser Gedanke will nun keineswegs die Meinung begünstigen, dass wir mit unserer mühevollen Anstrengung die selige Ewigkeit verdienen müssten. Paulus beschreibt weniger den Grund unserer Seligkeit als vielmehr die Art und Weise, wie Gott uns zu derselben führt. Denn zuvor hatte er deutlich genug ausgeführt, dass mit der freien Gnade Gottes sich kein Verdienst der Werke verträgt. Wenn er uns nunmehr zur Geduld mahnt, so will er keine andere Lehre darüber vortragen, woher unser Heil stammt, sondern nur darüber, wie Gott das Leben der Seinen regiert.

Denn ich halte es dafür, dass dieser Zeit Leiden der Herrlichkeit nicht wert sei, die an uns soll offenbart werden. – Die Ermahnung zur Geduld, welche schon der vorige Satz in sich barg, wird jetzt unverhüllter ausgesprochen und zugleich mit einem kräftigen Grund unterstützt. Wir dürfen es uns nicht verdrießen lassen, wenn der Weg zur himmlischen Herrlichkeit durch mancherlei Trübsal führt; denn diese Trübsal wiegt leicht gegen jene überschwängliche Herrlichkeit. Den Leiden dieser Zeit, welche also bald vorübergehen, steht die Herrlichkeit gegenüber, die an uns in alle Zukunft und Ewigkeit soll offenbart werden.