RÖMER

Römer Kapitel 5 Teil XII

Römer 5.20-21

Das Gesetz aber ist neben eingekommen, auf dass die Sünde mächtiger würde. Wo aber die Sünde mächtig geworden ist, da ist doch die Gnade viel mächtiger geworden, auf dass, gleichwie die Sünde geherrscht hat zum Tode, also auch herrsche die Gnade durch die Gerechtigkeit zum ewigen Leben durch Jesum Christum, unsern Herrn.

 

Das Gesetz aber ist neben eingekommen. – Der Gedanke an das Gesetz ergab sich notwendig daraus, dass Paulus zuvor ausgesprochen, schon vor Erlass des Gesetzes sei Sünde in der Welt gewesen (5.13). Denn nun musste sofort die Frage aufsteigen, was denn das Gesetz ausrichten solle. Diese Schwierigkeit hätte schon an der früheren Stelle behoben werden sollen. Aber der Apostel wollte den Zusammenhang nicht unterbrechen. Jetzt trägt er die Lösung nach, aber auch nur flüchtig. Wenn es heißt, das Gesetz sei zwischeneingekommen, auf dass die Sünde mächtiger würde, so soll damit Nutzen und Wert des Gesetzes nicht etwa vollständig beschrieben sein; der Apostel greift lediglich eine Seite der Sache heraus, auf welche es im vorliegenden Zusammenhange ankommt. Er lehrt, dass für die göttliche Gnade Raum geschafft werden sollte und die Menschen deshalb zu tieferer Erkenntnis ihres Verderbens geführt werden mussten. Sie hatten ja längst vor dem Gesetz Schiffbruch erlitten, aber sie bildeten sich in ihrem Verderben ein, zu schwimmen; so mussten sie in die Tiefe getaucht werden, damit die Erlösung, die sie wider alles menschliche Begreifen von dort emporhebt, umso herrlicher erscheine. Man darf es auch keineswegs für unsinnig halten, dass ein Gesetz unter anderem auch dem Zwecke dienen soll, bereits verdammte Menschen noch einmal zu verdammen, denn nichts ist gerechter, als dass die Menschen auf alle Weise zur Erkenntnis ihres Übels geführt oder besser getrieben werden.

Auf dass die Sünde mächtiger würde. – Vielfach versteht man dies Wort so, dass der Druck des Gesetzes die böse Lust nur noch mehr reize. Denn es liege in der Menschennatur, gegen Verbotenes sich aufzulehnen. Mir scheint indessen nur von dem Wachstum der Erkenntnis und Einsicht die Rede zu sein. Denn das Gesetz schiebt den Menschen ihre Sünde derartig unter die Augen, dass sie die ihnen bevorstehende Verdammnis notgedrungen sehen müssen. Die Sünde, welche man sonst unbeachtet hinter sich warf, ergreift nunmehr das Gewissen. Wer bisher nur einfach der Schranken der Gerechtigkeit übertrat, wird jetzt, seitdem es ein Gesetz gibt, zum Verächter des göttlichen Befehls, der ihm Gottes Willen bekannt machte, denn er tritt Gottes geoffenbarten Willen mit Füßen. So wird die Sünde durchs Gesetz gemehrt, weil das Ansehen des Gesetzgebers Verachtung und seine Majestät Herabsetzung erfährt.

Da ist doch die Gnade viel mächtiger geworden. – Nachdem die Sünde die Menschen im Abgrunde festgehalten hat, hat die Gnade Hilfe gebracht. Die Größe der Gnade tritt in ein umso helleres Licht, weil sie die überströmende Sünde so reichlich überflutet, dass sie die böse Flut nicht bloß bedeckt, sondern gänzlich verzehrt. Hier sollen wir lernen, dass das Gesetz uns nicht deshalb unsere Verdammnis vorhält, um uns darin zu lassen. Sondern nachdem wir unser Elend recht erkannt, sollen wir zu Christus empor gerichtet werden, welcher gekommen ist als ein Arzt der Kranken, ein Erlöser der Gefangenen, ein Tröster der Betrübten, ein Helfer der Unterdrückten (Jesaja 61.1).

Auf dass, gleichwie die Sünde geherrscht hat zum Tode, also auch herrsche die Gnade durch die Gerechtigkeit zum ewigen Leben durch Jesum Christum, unsern Herrn. – Wie die Sünde „der Stachel des Todes“ (1. Korinther 15.56) heißt, weil der Tod nur um der Sünde willen ein Recht auf den Menschen hat, so macht sie ihre Kraft durch den Tod geltend. Deshalb heißt es, sie übe durch denselben ihre Herrschaft aus. Das zweite Satzglied entspricht nicht einfach dem ersten. Hätte dies der Fall sein sollen, so müsste es lauten: „Also auch herrsche die Gerechtigkeit durch Christus.“ Aber mit diesem einfachen Gegensatz wollte Paulus sich nicht begnügen: Er schiebt noch das Wort „Gnade“ zwischenein, um einzuprägen, dass in diesem Handel nichts an unserm Verdienst, sondern alles an dem freien Erbarmen Gottes hängt. Hatte der Apostel früher (5.14) gesagt, dass der Tod selbst geherrscht habe, so schreibt er jetzt der Sünde die Herrschaft zu, doch so, dass deren Ziel und Ende der Tod ist. Und zwar heißt es: Die Sünde hat geherrscht – in der Vergangenheit. Damit soll gewiss nicht gesagt sein, dass sie aufgehört habe in denen zu herrschen, welche nur vom Fleisch und Blut geboren sind. Vielmehr wird die Zeit Adams und die Zeit Christi unterschieden. Sobald also in irgendeinem Menschen Christi Gnade ihr Regiment begonnen, hört die Herrschaft der Sünde und des Todes auf.