RÖMER

Römer Kapitel 2 Teil IV

Römer 2.14-16

Denn so die Heiden, die das Gesetz nicht haben, doch von Natur tun des Gesetzes Werk, sind dieselben, dieweil das Gesetz nicht haben, sich selbst ein Gesetz, als die da beweisen, des Gesetzes Werk sei geschrieben in ihrem Herzen, sintemal ihr Gewissen ihnen zeugt, dazu auch die Gedanken, die sich untereinander verklagen oder entschuldigen, auf den Tag, da Gott das Verborgene der Menschen durch Jesus Christus richten wird laut meines Evangeliums.

 

Denn so die Heiden, die das Gesetz nicht haben, doch von Natur tun des Gesetzes Werk, sind dieselben, dieweil das Gesetz nicht haben, sich selbst ein Gesetz. – Jetzt empfängt der soeben entwickelte Gedanke eine weitere Begründung. Paulus begnügt sich nicht damit, uns mit dem Worte zu verdammen und uns Gottes gerechtes Gericht anzukündigen. Er sucht vielmehr klare Gründe vorzubringen, um uns desto mehr zum Verlangen nach Christus und zur Liebe zu Ihm zu reizen. Paulus zeigt nun, dass die Heiden vergeblich Unwissenheit vorschützen werden, da sie durch die Tat kundtun, dass ihnen keineswegs jedes Bewusstsein von einem Gesetz des Guten fehlt. Denn kein Volk hat sich je auf einem so untermenschlichen Standpunkte befunden, dass es sich nicht innerhalb gewisser Ordnungen bewegte. Da nämlich alle Völker von Natur und ohne besonderen Unterricht sich zu einer Gesetzgebung geneigt zeigten, so müssen dem menschlichen Gemüte zweifellos gewisse Urbegriffe von Recht und Billigkeit, sozusagen gesunde moralische Vorurteile, angeboren sein. Ohne Gesetz haben sie doch ein Gesetz, freilich kein geschriebenes wie das mosaische, wohl aber eine gewisse Erkenntnis davon, was recht und billig ist. Sonst könnten sie ja überhaupt nicht zwischen Untaten und tugendhaften Handlungen unterscheiden; und doch strafen sie die ersteren, fordern die letzteren und zollen dem, was nach ihrer Meinung anerkennenswert ist, hohes Lob. Unter dem, was die Heiden von Natur, im Gegensatze zum geschriebenen Gesetz, haben, versteht Paulus das natürliche moralische Licht, kraft dessen die Heiden sich selbst ein Gesetz sind und welches ihnen das ersetzt, was den Juden ihr Gesetz bedeutet.

Als die da beweisen, des Gesetzes Werk sei geschrieben in ihrem Herzen. – Das heißt, sie liefern den Beweis, dass in ihren Herzen ein Unterscheidungsvermögen sich befindet, welches den Gegensatz von billig und unbillig, ehrbar und schändlich wohl zu fassen weiß. Dass dieser Gegensatz ihren Willen derartig beherrsche, dass sie sich wirklich und mit ganzem Eifer von demselben leiten ließen, behauptet Paulus nicht, sondern nur, dass die Macht der Wahrheit sich ihnen unwidersprechlich aufdrängt. Wie kämen sie sonst dazu, Religionsübungen einzurichten, wenn sie nicht wüssten, dass man Gott verehren muss? Warum schämen sie sich der Hurerei und des Diebstahls, wenn sie nicht solche Dinge für schlecht ansehen? Für eine Überschätzung der Willensfreiheit bieten diese Ausführungen keinen Anlass. Denn nur von der Wahrheitserkenntnis ist die Rede, nicht von der Fähigkeit, das erkannte Gesetz auch zu befolgen. Unter dem Herzen wird also weniger der Sitz der Willenskraft, als vielmehr nur der Erkenntnis zu verstehen sein. Wie es an andern Stellen (5. Mose 29.3; Lukas 24.25) heißt: „Der Herr hat euch nicht gegeben ein Herz, das verständig wäre“; „O ihr Toren und trägen Herzens, zu glauben“ usw. Übrigens darf man auch dies nicht aus unserer Stelle entnehmen, dass die Menschen eine vollkommene Erkenntnis des Gesetzes besitzen; nur Samenkörner der Gerechtigkeit tragen sie in sich. Dazu rechne ich die Tatsache, dass alle Völker gleichermaßen Religionsübungen pflegen, dass sie den Ehebruch, den Diebstahl, den Mord bestrafen und bei Handels- und Rechtsgeschäften Treu und Glauben hochhalten. Es macht dabei nichts aus, was das für ein Gott ist, den sie sich bilden oder wie viele Götter sie sich machen; hier genügt es, dass sie überhaupt wissen, dass es „Gott“ gibt und dass man ihn ehren, ihm dienen soll. Auch verschlägt es nichts, dass sie das böse Begehren und den Hass nicht verbieten; wenn sie den Vollzug einer Tat für böse halten, so kann ihnen das Begehren im Grunde doch auch nicht erlaubt erscheinen!

Sintemal ihr Gewissen ihnen zeugt, dazu auch die Gedanken, die sich untereinander verklagen oder entschuldigen, auf den Tag. – Schärfer konnte der Apostel die Menschen nicht angreifen als mit dem Zeugnis ihres eignen Gewissens, welches so viel wiegt wie das Zeugnis von Tausenden. Mit dem Bewusstsein seiner guten Taten pflegt man sich ja zu stärken und zu trösten; das böse Gewissen dagegen quält und martert. Daher haben schon die Heiden Sprichwörter wie die: Ein gutes Gewissen sei besser als der Beifall der größten Volksversammlung, ein schlechtes Gewissen sei der peinlichste Henker und quäle die Menschen mehr als die Furien. Es gibt also eine gewisse natürliche Erkenntnis des Gesetzes, welche manche Handlungen für gut und nützlich, andere für verwerflich erklärt. Beachtenswert ist die feinsinnige Beschreibung des Gewissens, welche uns vor Augen führt, wie die Gründe im Gedächtnis aufsteigen, welche eine Tat noch als gut erscheinen lassen, oder welche andererseits uns eines Vergehens anklagen und überführen. Diese Klage- und Entschuldigungsgründe stehen nun in Bezug (Vers 16) auf den Tag des Herrn, nicht weil sie etwa dann erst aus der Vergessenheit auftauchen werden, denn sie sind schon jetzt lebendig und treiben unablässig ihr Geschäft, sondern weil sie dann noch so stark sein werden, dass niemand sie als bedeutungslosen Schein beiseiteschieben kann.

Da Gott das Verborgene der Menschen durch Jesus Christus richten wird laut meines Evangeliums. – Diese Beschreibung des Gerichts passt vortrefflich in den gegenwärtigen Gedankengang: Wer sich gern in dem Schlupfwinkel stumpfer Unwissenheit verbergen möchte, soll wissen, dass seine innersten, in den Falten des Herzens versteckten Gedanken alsdann ins Licht gezogen werden. Wenn deshalb der Apostel an einer andern Stelle (1. Korinther 4.5) die Nichtigkeit menschlichen Urteils einprägen will, welches an der äußeren Maske hängen bleibt, so richtet er unsern Blick auf die Wiederkunft des Herrn, der, was im Finstern verborgen ist, ans Licht bringen und den Rat den Herzen offenbaren wird. Diese Erinnerung mag uns dazu anleiten, wenn wir die rechte Zufriedenheit mit uns selbst haben wollen, zu jener vollen Klarheit und Gewissheit des Sinnes den Weg zu suchen. Wenn Paulus hinzufügt: Laut meines Evangeliums, so erhebt er den Anspruch, dass seine Lehre sich mit der ursprünglichen Anlage des Menschengemütes decke. „Sein“ ist das Evangelium, weil ihm der Dienst an demselben befohlen war. Denn ein „Evangelium“ zu offenbaren, steht allein bei Gott; und dasselbe auszuspenden, hat er den Aposteln verliehen. Weiter heißt das Evangelium ganz passend in einem gewissen Betracht eine Verkündigung und Predigt vom zukünftigen Gericht. Denn wenn die völlige Auswirkung der im Evangelium verheißenen Güter uns erst bei der vollen Offenbarung des Himmelreichs zuteilwerden wird, so erscheint die Verbindung mit dem letzten Gerichte fest geknüpft. Christus wird als die Auferstehung für die einen, als der Richter für die andern gepredigt; und beides hängt auf das engste mit dem Tage des Gerichts zusammen. Dieses Gericht wird gehalten durch Jesus Christus. Dass Er vom Vater eingesetzt ward, zu richten die Lebendigen und die Toten, rechnen die Apostel überall unter die Hauptstücke der evangelischen Predigt. Durch den Hinweis auf diesen Richter empfängt unser Satz erst die nötige Abrundung.