RÖMER

Römer Kapitel 11 Teil II

Römer 11.7-10

Wie denn nun? Was Israel sucht, das erlangte es nicht; die Auserwählten aber erlangten es. Die andern sind verstockt, wie geschrieben steht: „Gott hat ihnen gegeben einen Geist des Schlafs, Augen, dass sie nicht sehen, Ohren, dass sie nicht hören, bis auf den heutigen Tag.“ Und David spricht: „Lass ihren Tisch zu einem Strick werden und zu einer Berückung und zum Ärgernis und ihnen zur Vergeltung. Verblende ihre Augen, dass sie nicht sehen, und beuge ihren Rücken allezeit.“

 

Wie denn nun? Was Israel sucht, das erlangte es nicht; die Auserwählten aber erlangten es. – Bei der Schwierigkeit der zur Verhandlung stehenden Frage drückt sich der Apostel wie zweifelnd und nachforschend aus. Dadurch sollte doch die nachfolgende Antwort umso gewisser werden. Wir sollen verstehen, dass eine andere gar nicht gegeben werden konnte. Diese Antwort lautet aber: Israel musste sich bei seinem Suchen nach der Seligkeit vergeblich abmühen, denn es befand sich auf einem falschen Wege, wie der Apostel bereits früher (10.3) dargelegt hatte. Von dieser Masse des Volkes heben sich nun die Auserwählten ab, welche nicht aus eigenem Verdienst selig werden, sondern durch Gottes freie Gnade. Sie waren von Natur nicht besser als die übrigen; aber Gottes Erwählung schuf einen Unterschied: Die Auserwählten erlangten es. Paulus stellt also ausdrücklich dem ganzen Israel jenen Rest des Volkes gegenüber, der aus Gottes Gnade das Heil erlangte. Daraus folgt, dass der Grund des Heils nicht im Menschen liegt, sondern von Gottes reinem Wohlgefallen abhängt.

Die andern sind verstockt. – Wie allein die Auserwählten durch Gottes Gnade dem Verderben entrissen werden, so bleiben die, welche nicht erwählt sind, notwendig verblendet. Blickt Paulus auf die Verworfenen, so kommt ihr Untergang, ihre Verdammnis letztlich daher, dass sie von Gott sich selbst überlassen sind. Alle die verschiedenen Schriftstellen, welche Paulus zum Beweise dessen alsbald anführt, scheinen nun nach ihrem jeweiligen Zusammenhange sämtlich vorauszusetzen, dass diese Verstockung und Verhärtung eine Strafe Gottes sei, welche die gerechte Antwort auf die Untaten der Gottlosen gibt. Paulus aber behauptet hier vielmehr: Nicht diejenigen werden verstockt, welche es um ihrer Bosheit willen verdient haben, sondern welche Gott vor Grundlegung der Welt verworfen hat. Dieser scheinbare Widerspruch hebt sich, wenn man bedenkt, dass der Ursprung der Gottlosigkeit, welche den Zorn Gottes reizt und zur Strafe aufruft, in der Verkehrtheit eben der Natur liegt, die Gott sich selbst überlassen hat. Deshalb zitiert Paulus ganz mit Recht diese Sprüche von der Gottlosen Bosheit und ihrer Strafe auch für die Wahrheit von der ewigen Verwerfung, denn diese Bosheit geht aus der Verwerfung hervor, wie die Früchte aus dem Baum und der Bach aus der Quelle. Gewiss werden die Gottlosen um ihrer Verbrechen willen durch ein gerechtes Gericht Gottes mit Blindheit gestraft; aber wenn man nach der letzten Quelle ihres Verderbens forscht, so wird man schließlich dabei anlangen: Sie konnte infolge des Fluches, den Gott über sie verhängte, mit all ihrem Tun, Reden und Raten nur neuen Fluch sich zuziehen und aufhäufen. Im Übrigen ist der Grund der ewigen Verwerfung so verborgen, dass uns nichts anderes übrigbleibt, als mit stummer Verwunderung vor Gottes unbegreiflichem Ratschluss still zu stehen. Dabei ist und bleibt es töricht, wenn man es unternimmt, vermittels der näheren Ursachen der Verwerfung (nämlich der Bosheit und des Unglaubens der Gottlosen) die entferntere und entscheidende Ursache, Gottes undurchdringlichen Ratschluss, zu verhüllen. Als ob Gott nicht in voller Freiheit vor Adams Fall über das ganze Menschengeschlecht beschlossen hätte was ihm gut schien!

„Gott hat ihnen gegeben einen Geist des Schlafs, Augen, dass sie nicht sehen, Ohren, dass sie nicht hören, bis auf den heutigen Tag.“ – Ohne Zweifel beruft sich hier Paulus auf eine Stelle des Jesaja (Jesaja 6.9-10), welche auch Lukas einmal zitiert hat (Apostelgeschichte 28.26). Doch führt er dieselbe nicht wörtlich, sondern mit einigen Veränderungen an. Es liegt ihm eben nur an dem Sinne: Gott hat Israel einen Geist der Verbitterung gesandt, so dass es äußerlich sieht und hört, und doch nichts vernimmt. Ganz aus seinem eigenen fügt Paulus hinzu: Bis auf den heutigen Tag. Denn es soll niemand glauben, dass diese Weissagung schon zur Zeit des Propheten erfüllt worden sei, also nicht mehr auf die Zeit, da das Evangelium geoffenbart ward, bezogen werden dürfe. Die Verstockung, von welcher der Prophet spricht, hat nicht nur einen Tag gewährt, sondern hat unter der unheilbaren Hartnäckigkeit des Volkes bis auf Christi Ankunft und darüber hinaus angehalten.

Und David spricht: „Lass ihren Tisch zu einem Strick werden und zu einer Berückung und zum Ärgernis und ihnen zur Vergeltung. Verblende ihre Augen, dass sie nicht sehen, und beuge ihren Rücken allezeit.“ – Auch diese Worte Davids führt der Apostel etwas verändert an, aber ohne Abweichung vom ursprünglichen Sinne. Der heilige Sänger ruft auf die Gottlosen Gottes Strafe herab: Was sonst im Leben wünschenswert und beglückend ist – David nennt beispielsweise ihren Tisch – soll ihnen zum Sturz und Verderben ausschlagen. Er wünscht ihnen an, dass ihr Geist verdunkelt und ihre Kraft gebrochen werden möge. Dies wollen die Worte besagen (Vers 10): Verblende ihre Augen, beuge ihren Rücken! Dass dieser Spruch, der von Davids Feinden handelt, auf das Verhältnis der Juden zu Christus gedeutet wird, versteht man, wenn man sich erinnert, dass David ein Vorbild Christi war. Was hier David erbittet, wird alle Feinde Christi treffen: Ihre Speise wird in Gift verwandelt, denn das Evangelium ist ihnen ein Geruch des Todes zum Tode. Welche Mahnung, mit Demut und Zittern Gottes.