RÖMER

Römer Kapitel 11 Teil I

Römer 11.1-6

So sage ich nun: Hat denn Gott sein Volk verstoßen? Das sei ferne! Denn ich bin auch ein Israeliter von dem Samen Abrahams, aus dem Geschlecht Benjamin. Gott hat sein Volk nicht verstoßen, welches er zuvor ersehen hat. Oder wisset ihr nicht, was die Schrift sagt von Elia, wie er tritt vor Gott wider Israel und spricht: „Herr, sie haben deine Propheten getötet und haben deine Altäre zerbrochen; und ich bin allein übriggeblieben, und sie stehen mir nach meinem Leben“? Aber was sagt ihm die göttliche Antwort? „Ich habe mir lassen übrig bleiben siebentausend Mann, die nicht haben ihre Knie gebeugt vor dem Baal.“ Also geht es auch jetzt zu dieser Zeit mit diesen, die übrig geblieben sind nach der Wahl der Gnade. Ist´ s aber aus Gnaden, so ist´ s nicht aus Verdienst der Werke; sonst würde Gnade nicht Gnade sein. Ist´ s aber aus Verdienst der Werke, so ist die Gnade nichts; sonst wäre Verdienst nicht Verdienst.

 

So sage ich nun: Hat denn Gott sein Volk verstoßen? Das sei ferne! – Was der Apostel bisher über die Blindheit und Widerspenstigkeit der Juden vorgetragen hat, kann leicht den Schein erwecken, als hätte Christi Ankunft die Juden von allem Anrecht auf die Seligkeit ausgeschlossen und Gottes Verheißungen auf andere Leute übertragen. Dieser falschen Ansicht tritt Paulus nunmehr entgegen. Was er über Israels Verwerfung gesagt, erfährt eine Einschränkung. Es soll nicht so gemeint sein, als wäre der Bund, welchen Gott einst mit Abraham geschlossen, gänzlich aufgehoben, oder als habe Gott aufgehört, Abrahams zu gedenken, so dass nun Israel ebenso weit von Gottes Reich entfernt wäre wie vor Christi Ankunft die Heiden. Die Frage ist also nicht, ob Gott ein Recht besessen habe, Sein Volk zu verstoßen oder nicht. Diese Frage war bereits im vorigen Kapitel entschieden: Hatte das Volk in irregeleitetem Eifer Gottes Gerechtigkeit verschmäht, so war es nur eine gerechte Strafe für die Selbstüberhebung, wenn Gott es verblendete und schließlich aus dem Bunde herausfallen ließ. Also auch der Grund der Verwerfung beschäftigt den Apostel an unserer Stelle nicht mehr. Vielmehr erhebt sich eine ganz andere Schwierigkeit: Es fragt sich, ob der Bund, welchen Gott einst mit den Erzvätern geschlossen hat, wirklich habe abgeschafft werden können. War auch die Strafe des Volkes eine wohl verdiente, so wäre es doch ungereimt, wenn der Menschen Treulosigkeit den Bund sollte ins Wanken bringen können. Denn der Grundsatz steht unbedingt fest, dass die Annahme zur Kindschaft ein Werk der freien Gnade ist, nicht auf Menschen, sondern allein auf Gottes Grund gebaut, dass sie also fest und unbeweglich stehen muss, wenn auch aller Unglaube der Menschen sich wider sie auflehnt. Dieser Knoten muss entwirrt werden, wenn nicht der Schein entstehen soll, als hinge Gottes Wahrheit und Erwählung an der Menschen Würdigkeit.

Denn ich bin auch ein Israeliter. – Bevor Paulus in die Erörterung der Frage selbst eintritt, zeigt ein Hinweis auf seine eigne Person, wie töricht der Gedanke ist, dass Gott sein Volk verlassen haben könne. Paulus war Israelit von Geburt, nicht etwa erst als Proselyt neu in Israels Gemeinschaft aufgenommen. Gehörte er nun ohne Zweifel zu den hervorragendsten der auserwählten Knechte Gottes, so war dies ein Beweis, dass Gottes Gnade in Israel noch ihre Stätte besaß. Dass sich der Apostel nicht bloß einen Israeliten nennt, sondern außerdem hinzufügt von dem Samen Abrahams, aus dem Geschlecht Benjamin, geschieht nur, um seine wirkliche Abstammung aus Israel nachdrücklich zu betonen (vergleiche Philipper 3.4).

Gott hat sein Volk nicht verstoßen. – Die Antwort, die Paulus gibt, ist nur negativ und sehr vorsichtig. Der Apostel wäre mit sich selbst in Widerspruch geraten, wenn er bestritten hätte, dass das Volk verworfen sei. Aber wenn er das auch behauptet, so muss er doch eine Einschränkung machen: Es kann sich nur um eine Verwerfung handeln, die doch Gottes Verheißungen nicht unwirksam macht! So kommt es dazu, dass die Antwort des Paulus zwei Teile hat: Gott hat nicht etwa im Gegensatz zur Zuverlässigkeit Seines Bundes die ganze Nachkommenschaft des Abraham verworfen – und doch kommt die Kindschaft nicht in allen fleischlichen Nachkommen des Abraham zu ihrer Wirkung, weil hier Gottes verborgene Erwählung vorgeht. (Der erste Teil der Antwort steht in den Worten: „Gott hat sein Volk nicht verstoßen“, der zweite in der Einschränkung: „welches er zuvor ersehen hat“.) Die allgemeine Verwerfung kann also nicht hindern, dass einige Glieder der Nachkommenschaft unversehrt bleiben; denn der sichtbare Leib des Volkes war zwar abgetan, aber aus dem geistlichen Leibe Christi sollte dadurch kein Glied herausbrechen. Man könnte aber fragen, ob denn nicht die Beschneidung allen Juden als ein Zeichen der Gnade Gottes die Gewissheit verliehen hätte, zu Gottes Volk zu gehören? Darauf ist zu entgegnen: Nein, die äußere Berufung ist ohne den Glauben unwirksam, und den Ungläubigen wird also die Ehre entrissen, die sie von sich gewiesen haben. Es bleibt also ein besonderes Volk, an dem Gott Seine beständige Treue erweist, und den Ursprung dieses Volkes führt Paulus darauf zurück, dass Gott es zuvor ersehen hat. Es heißt nämlich hier nicht, dass Gott auf den Glauben schaut, sondern dass Er mit vorbedachtem Rat das Volk nicht verwirft, dass Er zuvor ersehen hat. Unter „Zuvorersehen“ ist dabei, wie schon zu 8.29 ausgeführt wurde, kein bloßes „Zuvorwissen“ zu verstehen, sondern Gottes fester Beschluss, Menschen zu Kindern anzunehmen, die noch gar nicht geboren sind und deshalb aus sich nicht vermögen, sich an Seine Gnade heranzumachen.

Nun verstehen wir, wie die Treue Gottes doch nicht hinfällt, wenn auch die allgemeine Berufung nicht ihre volle Frucht bringt, denn der Herr hält stets Seine wahre Gemeinde aufrecht, solange noch einige Auserwählte übrigbleiben. Denn wenn Gott auch das ganze Volk unterschiedslos einlädt, so zieht Er doch innerlich nur, die Er als die Seinen kennt und die Er Seinem Sohne gegeben hat: Ihnen wird Er auch bis zum Ende ein treuer Hüter sein.

Oder wisset ihr nicht, was die Schrift sagt von Elia. – Da die Zahl der an Christus gläubig gewordenen Juden eine so überaus geringe war, so lag der Schluss nahe, Abrahams ganzes Geschlecht sei verworfen, und in dieser Verwüstung sei kein einziges Anzeichen der göttlichen Gnade mehr zu entdecken. War die Kindschaft das heilige Band, welches Abrahams Kinder an Gottes Gemeinschaft fesselte, so musste ja dieses Band wohl zerrissen sein, anders ließ sich wenigstens die elende und unglückliche Zerstreuung des Volkes nicht erklären. Um diesen Anstoß zu beheben, bringt der Apostel ein durchschlagendes Beispiel. Er erinnert, dass zu Zeiten des Elia die Gemeinde Gottes völlig verwüstet und verschwunden schien. Jedes Anzeichen der Gnade Gottes war ausgelöscht; und doch blieb Gottes Gemeinde wie in einer Grabeshöhle verborgen und wurde dadurch wunderbar gerettet. Ob eine Gemeinde Gottes vorhanden sei, darf man also nicht nach dem äußeren Eindruck bemessen. Wenn dieser große Prophet, den Gottes Geist mit einem besonderen Scharfblick ausgerüstet hatte, in seinem Urteil über Gottes Volk sich so getäuscht sah, was werden wir dann erst mit unserer Kurzsichtigkeit ausrichten? Wir wollen lieber in aller Bescheidenheit schweigen und bedenken, dass Gottes verborgene Vorsehung seine Kirche schützt, auch wo alles verloren scheint.

Wie er tritt vor Gott wider Israel. – Das war gewiss ein hohes Zeichen für des Elias Eifer um den Herrn, dass er um Gottes Ehre willen nicht zögerte, wider sein Volk aufzutreten und um dessen gänzliche Vernichtung zu beten, da er glaubte, es sei alle Frömmigkeit und aller Dienst Gottes geschwunden. Und doch täuschte er sich, wenn er meinte, allein übrig geblieben zu sein unter dieser allgemeinen Flut von Gottlosigkeit. Damit versündigte er sich. Übrigens enthält die von Paulus zitierte Stelle kein ausdrückliches Gebet wider Israel, sondern nur eine Klage. Aber es unterliegt keinem Zweifel, dass diese hoffnungslose Anklage tatsächlich darauf hinausläuft, Gott möge dies Volk verderben.

„Ich habe mir lassen übrig bleiben siebentausend Mann, die nicht haben ihre Knie gebeugt vor dem Baal.“ – Mag man auch diese Zahl nicht gerade so bestimmt verstehen, wie sie lautet, so will der Herr damit doch jedenfalls eine große Menge bezeichnen. Da also Gottes Gnade auch in der äußersten Verstörung ihre Kraft nicht verliert, so sollen wir nicht leichthin für Satanskinder halten, deren Frömmigkeit wir nicht sehen. Wir wollen nicht vergessen, dass auch in der überflutenden Gottlosigkeit und allgemeinen Verwirrung das Heil vieler Auserwählten unter Gottes Siegel verschlossen und behütet liegt. Auf der andern Seite darf man aus dieser Tatsache freilich auch keinen Vorwand für die eigne Trägheit ableiten und seine Fehler unter Gottes Heimlichkeit verstecken. Wir wollen zugleich den Finger darauflegen, dass die Seligkeit doch nur denen zugesprochen wird, die nicht haben ihre Knie gebeugt vor dem Baal, die also innerlich unversehrt und unbefleckt im Glauben an Gott stehen und auch nicht in äußerlichem Heuchelwerk ihren Leib dem Dienst der Götzen geweiht haben.

Also geht es auch jetzt zu dieser Zeit mit diesen, die übrig geblieben sind nach der Wahl der Gnade. – Jetzt folgt die Anwendung des Beispiels auf die gegenwärtige Lage Israels: Auch gegenwärtig sind im Vergleich mit der ungeheuren Überzahl der offensichtlich Ungläubigen nur wenige Gläubige übriggeblieben. Dieser Ausdruck birgt zugleich eine Anspielung an die früher (9.29) zitierte Jesaja-Stelle (Jesaja 1.9), welche zeigt, dass inmitten der traurigsten Verwüstung Gottes Treue noch leuchtet, die wenigstens einen Samen hat lassen übrigbleiben. Dieser durch Gottes Gnade gebliebene Rest ist ein Zeugnis für die Unwandelbarkeit der göttlichen Erwählung. Gottes Kraft ist es, welche ohne menschliches Verdienst diesen Rest festhält, wie ja schon das Wort des Herrn an Elia andeutet. Diese Wahrheit prägt Paulus auch hier ausdrücklich ein, wenn er sagt: Nach der Wahl der Gnade.

Ist´ s aber aus Gnaden, so ist´ s nicht aus Verdienst der Werke. – Bei dem Gedanken von der freien Gnade verweilt die Rede noch etwas ausführlicher: Gnade und Verdienst der Werke bilden einen schneidenden Widerspruch. Wer das eine Stück aufrichtet, muss das andere verwerfen. Mag man daran denken, dass Gott unsere guten Werke im Voraus sehen oder dass Er Seine Gnade auf dieselben gründen soll, nachdem sie getan sind – immer wird man sich in Widerspruch mit Pauli Lehre setzen, welche neben der Gnade dem Verdienst der Werke überhaupt keinen Raum verstattet. Gottes Gnade allein führt das Regiment; sie ist der ganze, nicht bloß der halbe Grund der Erwählung.