WIR

von Jewgenij Samjatin

 

Verlag: Büchergilde Gutenberg

 

Leseprobe

In einem unsichtbaren Wind schwankend, stieg der Verbrecher hinauf, eine Stufe, noch eine, ein Schritt, der letzte seines Lebens – und er lag, das Gesicht zum Himmel gekehrt, den Kopf zurückgeworfen, auf seinem letzten Lager. Schwer, ehern wie das Schicksal, schritt der Wohltäter um die Maschine herum, legte die riesige Hand auf den Hebel… Totenstille. Aller Augen hingen an dieser Hand. Welch feurig glühender Sturm, welch innerer Aufruhr – das Werkzeug, die Resultate von 100 000 Volt zu sein! Welch großes Los! Eine unendliche Sekunde. Die Hand hatte den Strom eingeschaltet und sank herab. Die unerträglich helle Schneide des Strahls blitzte auf – ein Zittern, ein kaum vernehmliches Geräusch in den Röhren der Maschine. Der ausgestreckte Körper war in eine dünne, leuchtende Rauchwolke gehüllt – und da zerschmolz er vor unseren Augen, zerfloss, löste sich mit erschreckender Schnelligkeit auf. Nichts blieb von ihm als eine kleine Pfütze chemisch reinen Wassers, das noch eben rot im Herzen pulsierte… All das war höchst einfach, jedem von uns vertraut. Es war nichts weiter als die Dissoziation der Materie, die Spaltung der Atome des menschlichen Körpers. Dennoch war es jedes Mal von neuem ein Wunder, ein Zeichen der übermenschlichen Macht des Wohltäters.

 

(Ausschnitt aus: Jewgenij Samjatin – WIR; Büchergilde Gutenberg)

 

Inhalt

Die Menschheit in ferner Zukunft. 300 Jahre nach dem 200-jährigem Krieg, dem Krieg zwischen Stadt und Land, leben die Menschen des Einzigen Staates in gläsernen Städten: Durch die „Grüne Mauer“ von der Außenwelt geschützt – und vor den Beschützern im Inneren. Eine Privatsphäre existiert nicht mehr, nur das WIR: Die Menschen besitzen keine Namen mehr, sondern Nummern; sie leben in Häusern mit gläsernen Wänden, die Straßen zieren Abhörmembranen – alles wird kontrollier dank der Beschützer…

So lebet D-503 „glücklich“ als Ingenieur der Weltraumrakete „Integral“, die in Kürze in das Weltall starten soll. Für diese schreibt er – wie andere Teile der Intelligenzia – Aufzeichnungen für Bewohner anderer Planeten. Da wird sein Leben ins Wanken gebracht, als er auf die unergründliche I-303 trifft: Seine eingetragene Beziehung zu 0-90 wird ebenso erschüttert wie seine mathematisch-stringente Denkweise und sein geordnetes Leben…

 

Biographie

Jewgeni Iwanowitsch Samjatin wurde 1884 in Lebedjan/ Russland geboren. Zu Anfang dem Bolschewismus zugeneigt und aktiv sowohl am Aufstand des Panzerkreuzers Potemkin 1905 als auch an der Revolution von 1917 beteiligt, änderte Samjatin seine Gesinnung, nachdem Gewalt und Zerstörung zu einem Umdenken geführt haben. 1920 schrieb er seinen Roman WIR, der jedoch in Russland selbst verboten wurde und in seiner vollständigen Form erst 1988 erschien. Trotz Schreibverbot lebte er zuerst weiter in Russland; erst 1931 wurde ihm dank der Unterstützung von Maxim Gorki, seitens Stalin gestattet, nach Paris auszureisen. Dort verstarb Samjatin 1937 an einem Herzinfarkt.

 

Bewertung

WIR steht meiner Ansicht nach zu Recht auf der Ebene der großen Dystopien des 20ten Jahrhunderts: Huxleys Schöne neue Welt, Orwells 1984 oder Bradleys Fahrenheit 451 – um nur die sicherlich bekanntesten Romane zu nennen. Auch Samjatin beschreibt eine dunkle Vision, wie die Welt der Zukunft aussehen könnte – und er hat in einigen Aspekten sehr nahe an der Realität gelegen. Zwar sind heute weder unsere Bürgersteige noch Wände aus Glas, doch dank der Digitalisierung und des Internets und der sich daraus ergebenen Möglichkeiten – positiv wie negativ – ist der Mensch gläserner – und desozialisierter – als je. Und wie bei WIR ist es für den Menschen selbstverständlich, dass er keine Privatsphäre hat (abgesehen von den kurzen Phasen der „Sexuellen Stunden“, die jede Nummer – nach staatlicher Genehmigung – an bestimmten Wochentagen erhält); dass Verbrechen gegen den Einzigen Staat an die Beschützer gemeldet werden (auch das hatten wir später in der Geschichte ja zur genüge, sei es im Dritten Reich, in der UDSSR, der DDR und auch heute noch in anderen Ländern und Regimen).

Die Aufzeichnungen von D-503 beschreiben, wie er sich zwischen zwei immer stärker entwickelnden „Gedankenwelten“ plötzlich hin- und herbewegt – aber nur eine beider Möglichkeiten kann am Ende bestehen…

 

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