Krieg und Frieden

    Lew Nikolajewitsch Tolstoi

     

    Leseprobe

    Mit schmerzlicher Geringschätzung blickte Fürst Andrej auf diese endlosen, ungeordneten Truppenmassen, Trainfuhrwerke, Munitionswagen, Geschütze und wieder Fuhrwerke, Fuhrwerke und Fuhrwerke von allen möglichen Arten, die einander überholten und in drei, vier Reihen nebeneinander die schmutzige Landstraße versperrten. Von überall her, von hinten und von vorn, soweit nur das Ohr reichte, hörte man das Knarren der Räder, das Rumpeln der schweren und leichteren Fuhrwerke und der Lafetten, das Getrampel der Pferde, Peitschenschläge und Geschrei beim Antreiben, Schimpfworte der Soldaten, der Offiziersburschen und der Offiziere. An den Rändern der Straße sah man fortwährend bald gefallene Pferde, teils abgehäutet, teils unabgehäutet, bald zerbrochene Fuhrwerke, bei denen einzelne Soldaten saßen und auf irgendetwas warteten, bald Soldaten, die sich von ihren Abteilungen getrennt hatten und sich in einzelnen Trupps in die nächsten Dörfer begaben oder schon aus den Dörfern Hühner, Schafe, Heu oder Säcke mit irgendwelchem Inhalt herbeischleppten. Wo die Straße anstieg oder sich senkte, wurde das Gedränge noch dichter, und es gab dort ein ununterbrochenes Stöhnen und Schreien, Soldaten, bis an die Knie im Schmutz watend, packten mit den Händen die Geschütze und Wagen, um sie vom Fleck zu bringen; die Peitschenhiebe hagelten, die Hufe glitten aus, die Stränge rissen; alle schrien, soviel die Lunge hergab. Die Offiziere, die den Marsch zu beaufsichtigen Hatten, ritten zwischen den Wagenreihen bald vorwärts, bald zurück. Ihre Stimmen waren inmitten des allgemeinen Getöses nur schwach hörbar, und es war ihnen am Gesicht anzusehen, dass die an der Möglichkeit, diese Unordnung zu beheben, verzweifelten.

    „Das ist also das liebe, rechtgläubige Kriegsheer“, dachte Bolkonski, in Erinnerung an einen von Bilibin gebrauchten Ausdruck.

    (Ausschnitt aus: Lew Nikolajewitsch Tolstoi – Krieg und Frieden; Insel Taschenbuch)

     

    Inhalt

    Pierre, der etwas plumpe und weltfremde, uneheliche Sohn des Grafen Besuchow, kommt, im Ausland aufgewachsen, zurück nach Russland und wird dort von seinem totkranken Vater als Erbe eingesetzt – und ist plötzlich einer der begehrtesten Heiratskandidaten in Moskau und St. Petersburg. Und so kommt es, dass er sich mit der schönen Helene verheiraten lässt, doch schon schnell zeigen sich die ersten Schatten in der Ehe! Doch noch mächtiger sind die Schatten, die sich aus dem Westen Europas nähern, denn dort wird das Russische Reich mit dem Eroberungsfeldzug Napoleons konfrontiert – erst anfänglich im Bündnis mit Österreich, später dann gegen Prussen und schlussendlich in Napoleons Feldzug gegen Russland, der in dem Brandt Moskaus seinen Höhepunkt erreicht…

    Neben Pierre als einen der Hauptprotagonisten verwebt sich die Geschichte zudem mit den Lebenswegen der Familien Rostow und Bolkonski, den politischen Wirren der Zeit sowie Intrigen, Schicksalsschlägen und Hoffnungen…

     

    Biographie

    Leo Nicolai Tolstoi wurde 1828 als Sohn eines altadligen Gutsbesitzers in Jasnaja Poljana geboren. Von 1844 bis 1847 studierte er in Kasan Rechtswissenschaften und Orientalistik. Von 1851 reiste er in den Kaukasus und bis 1856 diente er bei der Armee, unter anderem im Krimkrieg. 1852 erschien mit Kindheit seine erste Veröffentlichung, worauf 1854 Knabenalter folgte. Bei seinem Besuch in St. Petersburg machte er 1855 die Bekanntschaft mit anderen Literaten wie Gontscharow und Turgenjew. Im gleichen Jahr verarbeitete Tolstoi seine Erlebnisse des Krimkrieges in seinen Sewastopol-Erzählungen. 1857 reiste er in die Schweiz, nach Frankreich, Italien sowie Deutschland. Im gleichen Jahr erschien der Roman Jugend. 1859 publizierte Tolstoi mit Familienglück seinen ersten Ehe-Roman. 1860 und 1861 erfolgte die zweite Auslandsreise. 1862 heiratet Tolstoi Sofija Andrejewna Behrs. 1863 bis 1869 arbeitet er an seinem Epos Krieg und Frieden, 1876 erscheint Anna Karenina. In den folgenden Jahren erscheinen diverse Abhandlungen und Erzählungen, darunter Worin besteht mein Glaube?, Der Tod des Iwan Iljitsch und die Kreuzersonate. Sein 1887 erschienenes Drama Die Macht der Finsternis wird anfänglich ebenso verboten wie die schon 5 Jahre vorher erschienene Abhandlung Meine Beichte. 1899 erscheint Tolstois dritter großer Roman Auferstehung. 1901 löste Tolstoi sich von der russisch-orthodoxen Kirche. Am 28.10.1910 flieht er von Jasnaja Poljana und stirbt im November auf der Bahnstation Astapowo.

     

    Bewertung

    Krieg und Frieden ist nicht nur ein Roman, sondern auch ein gewaltiges Epos, beginnend mit Napoleons Krieg gegen Österreich 1806 über den Russlandfeldzug 1812/1813 bis ca. in das Jahr 1820, in welchem Tolstoi seinen Epilog und Ausklang gibt. Hier werden die Lebensgeschichten der Familien Besuchow, Rostow und Bolkonski sowie vieler weiterer fiktiver als auch realer Protagonisten im geschichtlichen Kontext erzählt. Doch daneben philosophiert und reflektiert Tolstoi auch immer wieder über die Hintergründe des Krieges, der Beweggründe Napoleons in einzelnen Situationen und versucht sich in einer großdimensionalen, geschichtlichen Interpretation im Kontext seiner Zeit. Dabei variiert der Roman erzähltechnisch von episodischen Handlungen im persönlichen, familiären Mikrokosmos bis hin zum überregionalen, weltgeschichtlichen Handlungsraum. Und trotz der Vielzahl an Personen und Handlungssträngen gelingt es Tolstoi immer wieder, das Geschehen im Kleinen wie auch im Großen bildgewaltig mit Leben (bzw. dem kriegsbegleitenden Tod) zu erfüllen… einfach ein sehr gutes Buch!