Römer 3.19-20
Wir wissen aber, dass, was das Gesetz sagt, das sagt es denen, die unter dem Gesetz sind, auf dass aller Mund verstopft werde und alle Welt Gott schuldig sei; darum, dass kein Fleisch durch des Gesetzes Werke vor ihm gerecht sein kann; denn durch das Gesetz kommt Erkenntnis der Sünde.
Wir wissen aber, dass, was das Gesetz sagt, das sagt es denen, die unter dem Gesetz sind. – Jetzt bleiben die Heiden außer Betracht, und die soeben angeführten Sprüche werden ausdrücklich den Juden zugeschoben. Diese waren ja von wahrer Gerechtigkeit ebenso weit entfernt wie die Heiden; aber da sie ihre persönliche Unheiligkeit hinter dem besonderen Bunde Gottes, der sie zum auserwählten Volke machte, zu verstecken suchten, so war es nötig, sie besonders scharf anzufassen. Der Apostel kannte die geläufige jüdische Ausflucht, dass man die Sprüche der Schrift über die allgemeine Sündhaftigkeit des menschlichen Geschlechts allein auf die Heiden bezog. Darum erinnert er daran, dass die Schrift sich doch an die Juden wendet: Sie gehören also mit in den allgemeinen Haufen, und das Urteil trifft sie sogar ganz besonders. Wem galt denn das Gesetz sonst, und wen anders wollte es unterweisen als die Juden? Was bezüglich anderer Menschen gelegentlich darin vorkommt, ist Nebensache; zugeschnitten ist die Lehre des Gesetzes auf seine eigentlichen Jünger. Die Juden stehen unter dem Gesetz, weil für sie das Gesetz bestimmt war und also auf sie besonders zielte. Unter „Gesetz“ werden dabei auch die Weissagungen, überhaupt der ganze Inhalt des Alten Testaments verstanden.
Auf dass aller Mund verstopft werde. – Das heißt jede Ausflucht und Entschuldigung soll abgeschnitten werden. Das Bild erinnert an einen Gerichtsverhandlung: Ein Angeklagter, der wirklich etwas zu seiner Verteidigung vorzubringen hat, erbittet sich das Wort, um sich von falschem Verdachte zu befreien; fühlt er sich aber im Gewissen geschlagen, so muss er schweigen und still seine Strafe erwarten; und schon jenes notgedrungene Schweigen spricht ihm das Urteil. Den gleichen Sinn hat Hiob 40.4: „Ich will meine Hand auf meinen Mund legen.“ –
Eine weitere Auslegung unseres Wortes bietet die nächste Wendung: Und alle Welt Gott schuldig sei. Dem ist der Mund verstopft, der sich so im Gerichte gefangen sieht, dass jedes Entweichen unmöglich ist.
Des Gesetzes Werke. – Was hier unter „des Gesetzes Werke“ zu verstehen ist, haben selbst sehr kundige Leute sehr verschieden dargestellt. Die einen verstehen darunter die Beobachtung des ganzen Gesetzes, die andern wollen es allein auf die Einhaltung der Zeremonien beziehen. Die Vertreter der erstgenannten Anschauung berufen sich vor allem auf das Wort „Gesetz“, das eine Einschränkung nicht vertrage. Ich bin der Ansicht, dass dies Wort hier freilich eine andere Aufgabe hat: Unsere Werke sind vor dem Herrn so weit gerecht, als wir Ihm durch sie Dienst und Gehorsam zu leisten trachten. Um nun allen unsern Werken die Fähigkeit, uns gerecht zu machen, abzusprechen, nennt Paulus gerade die Werke, die das noch am ehesten vermöchten, wenn es überhaupt ginge. Denn am Gesetz hängen doch die Verheißungen, ohne die unsere Werke gar keinen Werkt vor Gott hätten. Paulus braucht also das Wort „Gesetz“, weil in ihm allenfalls unsere Werke einen Wert gewinnen könnten. Selbst die Scholastiker wussten noch darum, dass unsere Werke nicht aus sich, sondern im Zusammenhang mit Gottes Bund verdienstlich sein könnten. Sie bedachten dabei freilich nicht, dass diese unsere Werke befleckt sind und deshalb tatsächlich keinerlei Verdienst begründen; aber der oben genannte Grundsatz ist richtig. Es ist deshalb auch wohlbegründet, dass Paulus hier nicht von Werken schlechthin, sondern von des Gesetzes Werken redet. Paulus wendet sich hier offenbar gegen Leute, die das Volk mit einem falschen Vertrauen auf die Zeremonien irreführten. Um diesem Irrtum entgegenzutreten, beschränkt er sich aber nicht auf die Frage nach dem Wert der Zeremonien, sondern fragt nach dem ganzen Gesetz. Dafür ist der ganze Zusammenhang, den Paulus bisher verfolgt hat und auch weiter verfolgt, ein Beweis. Aber auch viele einzelne Stellen führen auf das gleiche Ergebnis. Es geht doch immer wieder um den Hauptgrundsatz: Alle Menschen werden ohne jede Ausnahme durch das Gesetz der Ungerechtigkeit überführt und beschuldigt. Der Gegensatz, der alles durchzieht, ist doch der zwischen der Gerechtigkeit aus den Werken und dem Schuldzustand, der aus unserer Übertretung folgt. – Unter Fleisch schlechthin werden die Menschen verstanden. Nur wirkt der Ausdruck noch umfassender, so wie etwa: Kein Sterblicher.
Denn durch das Gesetz kommt Erkenntnis der Sünde. – Der Beweis vollendet sich durch den Hinweis auf das Gegenteil: Gerechtigkeit kann das Gesetz nicht bringen, weil es uns der Sünde und der Verdammnis überführt. Aus dem gleichen Brunnen quillt nicht Leben und Tod. Indessen bleibt es eine unangetastete Wahrheit, dass das Gesetz an sich zur Gerechtigkeit gegeben ward und der Weg zum Leben ist. Aber unsere Sünde und Verderbtheit macht, dass dies Ziel nicht erreicht werden kann. So vermag das Gesetz nur dem Menschen seine Sünde zu enthüllen und ihm die Hoffnung der Seligkeit zu nehmen. Dabei wollen wir nur noch anmerken: Wen das Gesetz zum Sünder stempelt, der ist aller und jeder Gerechtigkeit bar. Wenn die römischen Kirchenlehrer eine halbe Gerechtigkeit erdichten, zu welcher die Werke wenigstens einen Teil beitragen sollen, so ist das ein gottloses Gerede.