Römer 14.1-4
Den Schwachen im Glauben nehmet auf und verwirret die Gewissen nicht. Einer glaubt, er möge allerlei essen; welcher aber schwach ist, der isst Kraut. Welcher isst, der verachte den nicht, der da nicht isst; und welcher nicht isst, der richte den nicht, der da isst; denn Gott hat ihn aufgenommen. Wer bist du, dass du einen fremden Knecht richtest? Er steht oder fällt seinem Herrn. Er mag aber wohl aufgerichtet werden; denn Gott kann ihn wohl aufrichten.
Den Schwachen im Glauben nehmet auf. – Jetzt wendet sich die Rede zu Ausführungen, die mit der Regelung des ganzen Gemeindelebens sehr nahe zusammenhängen. Die in der christlichen Erkenntnis schon weiter Vorgeschrittenen sollen auf die, noch Unreiferen, Rücksicht nehmen und sollen ihre Kraft dazu verwenden, die Schwachheit der andern zu stützen. Denn im Volke Gottes gibt es stets auch schwächere Glieder, welche man mit großer Geduld und Sanftmut tragen muss, wenn sie nicht verschüchtert und schließlich vielleicht dem Glauben entfremdet werden sollen. Wahrscheinlich war dies im apostolischen Zeitalter ganz besonders der Fall. Denn die Gemeinden waren aus Juden und Heiden gemischt. Die ersteren waren seit langen Zeiten gewöhnt, das Gesetz Moses mit allen Äußerlichkeiten zu beobachten; und was sie mit der Muttermilch eingesogen hatten, gaben sie nicht leicht preis. Die andern, welchen derartige Gewöhnungen fremd waren, wollten sich unter solches Joch nicht beugen. Da nun aber nach gemeiner Menschenart aus Meinungsverschiedenheiten leicht Streitigkeiten und Kämpfe hervorgehen, so zeigt der Apostel, wie beide Teile trotz verschiedener Ansichten ohne Zwiespalt miteinander leben können. Er weist uns den besten Weg: Die Stärkeren sollen sich Mühe geben, den Schwachen zu helfen; die Fortgeschritteneren sollen die Unreiferen tragen. Denn wenn Gott uns vor Andern Kraft verleiht, so tut Er es nicht, damit wir die Schwachen erdrücken. Und christliche Weisheit ist es nicht, sich übermäßig groß zu dünken und die andern zu verachten. Unter dem Gesichtspunkte wendet sich also die Rede an die Erfahreneren und Fortgeschritteneren, weil jemand, der vom Herrn ein größere Gnadengabe empfangen hat, umso mehr verpflichtet ist, dem Nächsten zurecht zu helfen.
Und verwirret die Gewissen nicht. – So etwa werden wir den Satz umschreiben dürfen, dessen Worte eigentlich, allerdings abgerissener, lauten: Den Schwachen im Glauben nehmet auf, „nicht zur Erregung von Zweifeln durch unzeitige Fragen.“ Paulus will sagen: Wenn wir uns des Schwachen annehmen, soll unser Verfahren ihn nicht durch unangebrachte Spitzfindigkeiten quälen und in Zweifel stürzen. Sicherlich war es nicht richtig, wenn viele Christen jüdischer Herkunft noch gar zu zähe an ihren gesetzlichen Formen hingen. Aber der Apostel will, dass man ihnen Zeit lassen soll. Ein übermäßiges Drängen würde nur ihren Glauben wankend machen. Die noch ungefestigten Gewissen werden verwirrt und in Zweifel gestürzt, wenn man spitzfindige und undurchsichtige Fragen anrührt, welche die Erbauung nicht fördern. Es gilt überall darauf zu achten, für welche Fragen in jedem Falle Reife und Verständnis vorhanden ist, und die Lehrweise soll sich diesem Stande der Erkenntnis anpassen.
Welcher isst, der verachte den nicht, der da nicht isst; und welcher nicht isst, der richte den nicht, der da isst; denn Gott hat ihn aufgenommen. – Voller Weisheit und Absicht begegnet der Apostel den Fehlern auf beiden Seiten. Die Gefestigten, die sich ohne Anstoß ihres Gewissens freier bewegen, fallen nur zu leicht in die Unart, dass sie die andern, die sich noch mit nichtigen Dingen Skrupel machen, als abergläubische Kinder verachten und verspotten. Diese wieder lassen sich vorschnell zu Verdammungsurteilen hinreißen und verdammen, was ihnen zu hoch ist. Was von ihrer eignen Meinung abweicht, halten sie für verwerflich. So warnt Paulus die einen vor hochfahrender Verachtung, die andern vor gar zu engherziger Peinlichkeit. Der Grund, welcher diese ganze Mahnung stützt, will nun auf beide Glieder bezogen sein, wie er ja auch für jedes Glied der beiden Gruppen zutrifft, denn Gott hat ihn aufgenommen. Besitzt ein Mensch das Licht der Erkenntnis Gottes, so ist dies Zeugnis genug, dass Gott ihn angenommen hat. Wer aber einen solchen verachtet oder verurteilt, der verwirft einen Menschen, welchen Gottes hält.
Wer bist du, dass du einen fremden Knecht richtest? – Wer unter Menschen eines andern Knecht nach seinem Willen regieren und unter seine Botmäßigkeit zwingen wollte, würde damit nicht bloß unpassend, sondern anmaßend handeln. So nimmst du dir auch zuviel Recht, wenn du an einem Knechte Gottes verurteilst, was dir nicht gefällt. Dir kommt es nicht zu, anzuordnen, was er tun und lassen soll. Und er braucht sich nach deiner Regel nicht zu richten. Soll uns nun das Recht zu urteilen abgesprochen werden, so gilt dies für die Person wie für ihre Taten. Doch besteht hier ein bedeutender Unterschied: Den Menschen müssen wir in jedem Falle dem Urteil Gottes überlassen, er mag sein wie er will. Über seine Taten dürfen wir nicht nach unserm eignen Maß urteilen, sondern nach Gottes Wort. Ein Urteil aber, welches diesem Worte entnommen ist, darf weder als menschlich noch als unsachgemäß gelten. Paulus will uns also jegliche Überhebung und Zudringlichkeit im Urteil wehren, deren sich schuldig macht, wer ohne Gottes Wort über die Taten der Menschen abzusprechen unternimmt.
Er steht oder fällt seinem Herrn. – Paulus will sagen: Zu billigen oder zu verwerfen, was der Knecht tut, steht allein seinem Herrn zu. Diesen Herrn beleidigt, wer das Urteil sich anmaßt. Wenn aber der Apostel hinzufügt: Er mag aber wohl aufgerichtet werden, so soll uns dies nicht bloß von einem Verdammungsurteil abhalten, sondern überhaupt zur Milde und menschlichen Nachsicht anleiten; solange wir an einem Menschen noch irgendetwas von Gott sehen, dürfen wir die Hoffnung für ihn nicht aufgeben. Denn der Herr gibt die Zusage, dass er den zu völliger Kraft und Vollkommenheit führen will, in welchem er sein Gnadenwerk angefangen hat. Danach sollen wir unser Urteil einrichten, und wir werden es tun, wenn anders die Liebe in uns lebendig ist.