Römer 11.25-27
Ich will euch nicht verhalten, liebe Brüder, dieses Geheimnis (auf dass ihr nicht stolz seid): Blindheit ist Israel zum Teil widerfahren solange, bis die Fülle der Heiden eingegangen sei und also das ganze Israel selig werde, wie geschrieben steht: „Es wird kommen aus Zion, der da erlöse und abwende das gottlose Wesen von Jakob. Und dies ist mein Testament mit ihnen, wenn ich ihre Sünden werde wegnehmen.“
Ich will euch nicht verhalten. – Der Apostel spannt die Aufmerksamkeit seiner Hörer noch höher, indem er gewissermaßen ein Geheimnis ankündigt. Er verfährt so mit bewusster Überlegung, denn er will die Erörterung dieser ganzen schwierigen Frage mit einer kurzen und deutlichen Aussprache schließen, die doch überraschend kommen musste. Dabei zeigt der Zusatz: „auf dass ihr nicht stolz seid“, worauf des Apostels Absicht zielt: Der Stolz und die Selbstüberhebung der Heiden gegenüber den Juden soll gebeugt werden. Diese Aussprache war nötig, wenn nicht schwache Gemüter an dem Abfall dieses Volkes Anstoß nehmen und auf den Gedanken kommen sollten, es sei nun um die Seligkeit aller Volksgenossen geschehen. Auch in unserer Zeit wollen wir ja nicht vergessen, dass für den Rest, welchen Gott noch endlich zu sich sammeln will, das Heil gleichsam unter einem festen Siegel verwahrt liegt. Freilich könnte es manchen zur Verzweiflung treiben, dass solches Heil so lange verzieht. Darum spricht Paulus von einem „Geheimnis“. Mit dieser Bekehrung wird es also nicht gehen wie mit jeder anderen; man darf sie nicht nach der gewöhnlichen Erfahrung beurteilen. Denn was kann verkehrter sein, als nicht glauben wollen, was sich unsern Sinnen entzieht! Eben deshalb ist es ein Geheimnis, weil es verborgen und unbegreiflich bleibt, bis es enthüllt wird. Nun ward es uns mitsamt den Römern kundgetan, damit unser Glaube sich mit dem Worte der Verheißung begnügen und darauf hoffen möchte, bis es klar und hell erfüllt wird.
Blindheit ist Israel zum Teil widerfahren. – Das soll nicht heißen, dass nur ein Teil des Volkes verstockt sei, oder dass die Verstockung einen bestimmten Teil von Zeit währen solle. Die Worte „zum Teil“ sind lediglich ein anderer Ausdruck für „gewissermaßen“. Die an sich harte Aussage von Israels Verstockung soll dadurch etwas gemildert werden. Ebenso heißt bis die Fülle der Heiden eingegangen sei nur etwa: Damit sie eingehe. Einen bestimmten Zeitverlauf, nach welchem etwa die Verstockung ein Ende haben solle, will Paulus nicht angeben. Der Sinn ist: Gott hat den Juden eine Art Verstockung auferlegt, damit das Evangelium, welches sie verschmähen, nunmehr zu den Heiden übergeleitet werde, und diese an die leer gewordene Stelle treten können. So dient Israels Verblendung dazu, dass Gottes Vorsehung den Heiden die Seligkeit bringen kann, die sie ihnen zugedacht hat. Dabei deutet die „Fülle“ auf ein ungeheures Zusammenströmen von Heiden. Schlossen sich doch nicht bloß, wie bisher, einige Proselyten an Israel an, sondern das Verhältnis erschien derartig auf den Kopf gestellt, dass die Hauptmasse der Gemeinde Heiden bildeten.
Und also das ganze Israel selig werde. – Viele meinen, der Apostel wolle hier dem jüdischen Volk in Aussicht stellen, dass der frühere Zustand seines Religionswesens wieder eingerichtet werden solle. Ich verstehe dagegen unter „Israel“ lieber das gesamte Volk Gottes. Wenn nämlich die Heiden in Gottes Reich werden eingegangen sein, und zugleich auch die Juden aus ihrem Abfall sich zum Gehorsam des Glaubens sammeln werden, dann wird die Seligkeit des ganzen Israel Gottes, welches Er aus beiden sich sammeln will, ihr Ziel erreicht haben, doch so, dass die Juden als die Erstgeborenen der Familie Gottes den ersten Platz behaupten. Diese Auslegung erscheint mir deshalb am passendsten, weil Paulus hier die Vollendung des Reiches Christi beschreiben will, welches doch nicht in den Grenzen des jüdischen Volkes beschlossen werden, sondern den ganzen Erdkreis umspannen soll. Ganz in der gleichen Weise heißt Galater 6.16 die ganze aus Juden und Heiden bestehende Gemeinde „das Israel Gottes“. Dieses aus der Zerstreuung gesammelte Gottesvolk tritt damit in Gegensatz zu den leiblichen Kindern Abrahams, welche von dessen Glauben abgefallen waren.
Wie geschrieben steht. – Dieses Zeugnis aus Jesaja dient nicht zum Belege der ganzen vorigen Aussage, sondern nur des einen Gliedes, dass die Kinder Abrahams die Erlösung empfangen sollen. Wenn nämlich jemand behaupten wollte, ihnen sei ja Christus verheißen und angeboten, aber sie hätten Ihn verschmäht und darum Seine Gnade verloren, so geben demgegenüber die Worte des Propheten eine bessere Hoffnung: Es wird immer ein Rest verbleiben, der sich bekehrt und die Gnade der Erlösung empfängt. Übrigens zitiert Paulus den Spruch des Jesaja nicht wörtlich. Es kommt ihm eben mehr auf den Sinn, als auf den Buchstaben an. Dazu wird (Vers 27) ein Satz aus Jeremia gefügt, welcher von der Vergebung der Sünden handelt. Diese beiden Stücke begreift ja das Amt und Königreich Christi in sich: Christus ist gekommen, uns durch die Vergebung der Sünden mit dem Vater zu versöhnen, und durch Seinen Geist ein neues Leben in uns zu schaffen. Das alles betrifft nun freilich auch die Heiden; da aber Israel der erstgeborene Sohn ist, so muss wohl an ihm zuerst solche Weissagung sich erfüllen. Es steht ja auch ausdrücklich (wenigstens im hebräischen Text, welchem der Apostel freilich nicht folgt) bei Jesaja, dass der Erlöser „denen zu Zion“ kommen werde. Und in jedem Falle lesen, dass Er das gottlose Wesen „von Jakob“ nehmen soll. Gottes Verheißung steht also fest: Gott wird in Seinem auserwählten Eigentumsvolke allezeit einen Samen haben, an welchem Seine Erlösung sich wirksam erweist. Diese Gewissheit lässt sich namentlich auch auf den Spruch aus Jeremia gründen. Er behebt den Anstoß, der sich aus der unüberwindlichen Hartnäckigkeit Israels ergeben musste, und lässt die Weissagungen trotz allem glaubhaft erscheinen. Denn er lehrt, dass der Neue Bund einfach in freier Vergebung der Sünden bestehen wird, ohne welche freilich Gott mit seinem abtrünnigen Volk nicht verkehren kann.