Römer 11.16-21
Ist der Anbruch heilig, so ist auch der Teig heilig; und so die Wurzel heilig ist, so sind auch die Zweige heilig. Ob aber nun etliche von den Zweigen ausgebrochen sind und du, da du ein wilder Ölbaum warst, bist unter sie gepfropft und teilhaftig geworden der Wurzel und des Safts im Ölbaum, so rühme dich nicht wider die Zweige. Rühmst du dich aber wider sie, so sollst du wissen, dass du die Wurzel nicht trägst, sondern die Wurzel trägt dich. So sprichst du: Die Zweige sind ausgebrochen, dass ich hineingepfropft würde. Ist wohl geredet! Sie sind ausgebrochen um ihres Unglaubens willen; du stehest aber durch den Glauben. Sei nicht stolz, sondern fürchte dich. Hat Gott die natürlichen Zweige nicht verschont, dass er vielleicht dich auch nicht verschone.
Ist der Anbruch heilig, so ist auch der Teig heilig; und so die Wurzel heilig ist, so sind auch die Zweige heilig. – Nunmehr stellt der Apostel die Würde der Juden und der Heiden einander gegenüber. Damit will er den letzteren alle Überhebung austreiben und sie dazu bringen, sich zufrieden zu geben. Ergibt sich doch, dass sie aus sich selbst durchaus keinen Vorzug vor den Juden geltend machen können. Wer auf solche angebliche Vorzüge sich verlassen will, dessen Sache ist von vornherein verloren. Dabei sind die Einzelnen darin alle gleich, dass sie von Natur überall als Kinder Adams dastehen. Nur dies begründet einen Unterschied, dass die Juden von den Heiden abgesondert und zu Gottes besonderem Eigentumsvolk gemacht waren. Sie waren also durch ein heiliges Bündnis geheiligt und in einen besonders edlen Stand erhoben, dessen Gott die Heiden zu jener Zeit noch nicht gewürdigt hatte. Nun war freilich in der Gegenwart die Kraft des Bundes nahezu erloschen. Darum lenkt der Apostel unsere Blicke auf seine Anfänge zurück, auf Abraham und die Erzväter überhaupt, bei welchen doch sicher Gottes Segen nicht leer und vergeblich geblieben war. Und er zieht den Schluss, dass von ihnen her ein heiliger Stand sich auf alle Nachkommen vererbt habe. Das lässt sich freilich nicht im Hinblick auf Personen sagen, wohl aber im Hinblick auf die einmal gegebene Verheißung, die unmöglich unwirksam sein kann. Der Vorfahr konnte nicht eine persönliche Rechtbeschaffenheit auf seine Nachkommen vererben. Aber weil Gott sich den Abraham mit der Absicht heiligte, das heißt zum Eigentum nahm, dass auch sein Name sein heiliges Eigentum sein sollte, so wurde dem ganzen Volk eine besondere, heilige Stellung in Gottes Nähe zuteil. Darum schließt der Apostel ganz richtig, dass in ihrem Vater Abraham alle Juden geheiligt sind. Zum Belege dieser Wahrheit bringt er zwei Gleichnisse bei, das erste aus den vom Gesetz verordneten Zeremonien, das andere aus der Natur. Das Erstlingsbrot, welches man darbrachte, sollte ja dazu dienen, dass der ganze Teig als heilig gelten konnte (4. Mose 15.19-21). Ebenso steigt aus der Wurzel die Kraft des Saftes in die Zweige. In dem gleichen Verhältnis aber, wie der Teig zu seinem Anbruch und die Zweige zum Baum, stehen die Nachkommen zu den Häuptern des Geschlechts. So begreift es sich, dass die Juden in ihrem Stammvater geheiligt wurden. Darin ist gar nichts Anstößiges, wenn man nur, wie gesagt, unter Heiligkeit lediglich die geistliche Vorzugsstellung des Volkes versteht, die sich nicht auf eine Naturbeschaffenheit gründet, sondern auf das göttliche Bundesverhältnis, welches sie über die Natur emporhob.
Ob aber nun etliche von den Zweigen ausgebrochen sind und du, da du ein wilder Ölbaum warst, bist unter sie gepfropft und teilhaftig geworden der Wurzel und des Safts im Ölbaum, so rühme dich nicht wider die Zweige. – Damit kommt der Apostel auf die gegenwärtige Stellung der gläubig gewordenen Heiden zu sprechen: Dieselben sind die Zweige, welche irgendwoher entnommen und in einen edlen Baum eingepfropft wurden. Die Heiden stammen gleichsam von einem Wald-Ölbaum, der keine genießbaren Früchte trägt; denn in ihrer ganzen Art fand sich nichts als Vermaledeiung. Was sie also Rühmenswertes haben, das rührt von ihrer neuerlichen Einpflanzung her, nicht von ihrem alten Stamm. Sie haben deshalb gar keinen Grund, sich über die Juden zu erheben. Und wie milde redet dabei Paulus über Israel! Er sagt nicht, dass die ganze Oberfläche des Baumes vertilgt, sondern nur dass etliche von den Zweigen ausgebrochen sind. An ihrer statt hat dann der Herr in den heiligen und gesegneten Stamm einige Zweige eingepfropft, die Er hier und dort aus den Heiden entnahm.
Rühmst du dich aber wider sie, so sollst du wissen, dass du die Wurzel nicht trägst, sondern die Wurzel trägt dich. – Einen Vorzug vor den Juden könnten die Heiden nur dann behaupten, wenn sie sich auch über Abraham erheben wollten. Das aber wäre doch gar zu verkehrt, weil er ja die Wurzel ist, welche sie trägt, und aus welcher sie das Leben empfangen. Ist es also töricht, wenn Zweige sich über die Wurzel erhaben dünken, so ist es auch töricht, wenn die Heiden gegenüber den Juden einen besonderen Ruhm beanspruchen.
So sprichst du: Die Zweige sind ausgebrochen, dass ich hineingepfropft würde. Ist wohl geredet! Sie sind ausgebrochen um ihres Unglaubens willen; du stehest aber durch den Glauben. Sei nicht stolz, sondern fürchte dich. – Damit war es aber derartig bestellt, dass viel mehr ein Anlass zur Demut als zum Stolz daraus erwuchs. Denn wenn die Juden um ihres Unglaubens willen ausgebrochen, die Heiden durch den Glauben eingepfropft wurden, so kann man daran doch nur Gottes Gnade erkennen und sich zur Demut und Unterwerfung schicken. Demütigung und heilige Scheu folgt ja unmittelbar aus der Natur des Glaubens. Also: Sei nicht stolz, sondern fürchte dich! Natürlich ist nicht eine Furcht gemeint, welche mit der Gewissheit des Glaubens streitet. In diesem Sinne soll unser Glaube keine Furcht und zweifelnde Unsicherheit kennen. Der Apostel will nur, dass unser Geist mit einer doppelten Betrachtung und infolgedessen mit einer doppelten Gesinnung sich erfülle. Wir sollen zuerst die elende Verfassung unserer Natur stetig betrachten; und wir werden daraus nur Schrecken, Abscheu, Angst und Verzweiflung schöpfen. Daraus wird dann zweitens folgen, dass wir uns in gänzlicher Zerknirschung demütigen, bis wir endlich unsere Seufzer zu Gott empor schicken. Bei alledem wird der Schrecken, den uns die Einsicht in unser eignes Wesen erregt, nicht hindern, dass unsere Seele Vertrauen auf Gottes Güte fasst und vollen Frieden gewinnt. Der Abscheu kann nicht hindern, dass wir in Gott einen festen Trost genießen; Angst und Verzweiflung werden uns nicht die klare Freude und Hoffnung im Herrn rauben. Furcht verlangt der Apostel nur als Gegengewicht gegen eine hochfahrende Sicherheit. Wenn wir aber weiter (Vers 21) die Drohung vernehmen, dass Gott vielleicht der Hochmütigen nicht schonen werde, wie er Israels nicht geschont hat, so soll damit die Gewissheit unseres Heils nicht etwa erschüttert werden. Die Mahnung richtet sich nur wider den Übermut des Fleisches, der sich auch bei den Kindern Gottes noch vielfach bemerkbar macht. Zuletzt möchte ich mit besonderem Nachdruck wiederholen, dass die ganze Darlegung weniger auf einzelne Menschen, als vielmehr auf die Schar der Heiden als ein Ganzes zielt; unter dieser Masse konnten viele aufgeblasene Menschen sein, welche den Glauben mit dem Munde bekannten, aber nicht im Herzen trugen. Um ihretwillen droht Paulus den Heiden die Abschneidung an.
Hat Gott die natürlichen Zweige nicht verschont, dass er vielleicht dich auch nicht verschone. – Dieser entscheidende Grund muss jedes falsche Selbstvertrauen niederschlagen. Wir können an die Verwerfung der Juden nicht erinnert werden, ohne dass uns eine tiefe und erschütternde Furcht ergreift. Denn was war sonst der Grund zu ihrem Sturz, als dass sie ihrer Würde gar zu hochmütig sicher wurden und das Gericht Gottes zu verachten anfingen? Ihrer wurde nicht geschont, obgleich sie natürliche Zweige waren. Wie wird es also erst uns wilden, gar nicht ursprünglich zum Baume gehörigen Zweigen ergehen, wenn wir zu hochmütig werden? Diese Betrachtung soll uns anleiten, uns selbst zu misstrauen, zugleich aber, uns umso kräftiger auf Gottes Güte zu verlassen.