PHILIPPER

Philipper Kapitel 3 Teil III

Philipper 3.12-17

Nicht, dass ich’s schon ergriffen habe oder schon vollkommen sei, ich jage ihm aber nach, ob ich’s auch ergreifen möchte, nachdem ich von Christo Jesu ergriffen bin. Meine Brüder, ich schätze mich selbst noch nicht, dass ich’s ergriffen habe. Eines aber sage ich: Ich vergesse, was dahinten ist, und strecke mich zu dem, das da vorne ist, und jage nach dem vorgestreckten Ziel, nach dem Kleinod, welches vorhält die himmlische Berufung Gottes in Christo Jesu. Wie viel nun unser vollkommen sind, die lasset uns also gesinnt sein; und solltet ihr sonst etwas halten, das lasset euch Gott offenbaren; doch so fern, dass wir nach derselben Regel, darein wir kommen sind, wandeln und gleich gesinnt seien. Folgt mir, liebe Brüder, und sehet auf die, die also wandeln, wie ihr uns habt zum Vorbilde.

 

Nicht, dass ich’s schon ergriffen habe. – Paulus ist vor allem darauf aus, die Philipper zu überreden, dass sie nichts anderes denken als Christus, nicht anderes wissen, nichts anderes erstreben, mit nichts anderem sich in ihren Gedanken beschäftigen. Hierfür ist äußerst wichtig, was er jetzt hinzufügt, dass er, der alle Hindernisse fahren ließ, doch das Ziel noch nicht erreicht hat, sondern dass er noch immer mit aller Macht vorwärts streben muss. Wie viel nötiger war dies also für die Philipper, die noch so weit hinter ihm zurückstanden! Aber nun ist die Frage, was das war, was Paulus noch nicht erreicht hatte. Denn in Gottes Reich sind wir doch ohne Zweifel eingegangen, wenn wir durch den Glauben dem Leibe Christi eingefügt werden. Wie es im Epheserbriefe heißt (2.5): Wir sind schon durch die Hoffnung in das himmlische Wesen versetzt. Ich antworte, dass wir unsere Seligkeit immerhin nur in der Hoffnung besitzen; so ist das Erbe selbst uns zwar sicher, aber wir stehen noch nicht in seinem vollkommenen Genuss. Hier aber denkt Paulus außerdem an den Fortschritt im Glauben und in der Abtötung des alten Menschen, von welcher er soeben sprach. Hörten wir zuvor, dass Paulus mit aller Macht nach der Auferstehung von den Toten durch die Gemeinschaft des Kreuzes Christi trachtete, so fügt er jetzt hinzu, dass er dies noch nicht erlangt habe, nämlich eben dies, dass er vollständige Gemeinschaft mit den Leiden Christi und eine vollkommene Erfahrung habe von der Macht der Auferstehung, so dass er Christus vollkommen erkannt hätte. So liegt in dieser Aussprache ein Hinweis, dass man in stetigem Fortschritt dem Apostel nachstreben muss, und zugleich dass die Erkenntnis Christi Schwierigkeiten bietet, welche selbst Leute, die alle Kraft an sie allein setzen, in diesem Leben nicht zur Vollkommenheit gelangen lässt. Übrigens tut das alles der Lehre des Paulus keinen Abbruch; denn so viel, als zur Ausübung des ihm übertragenen Amtes nötig war, hatte er reichlich ergriffen. Indessen musste er fortschreiten, damit er, der göttliche Lehrer aller, zur Demut erzogen werde.

Nachdem ich von Christo Jesu ergriffen bin. – Dieser Zusatz dient zur Abwehr eines Missverständnisses: Alles Streben und Mühen des Apostels soll doch als Wirkung der göttlichen Gnade verstanden werden. Er ist von Christus ergriffen, damit er Christus ergreife, das heißt. er hat nichts getan ohne Christi Antrieb und Leitung.

Meine Brüder, ich schätze mich selbst noch nicht, dass ich’s ergriffen habe. – Damit zieht Paulus nicht etwa seine Heilsgewissheit in Zweifel, als wenn er hierüber bis jetzt noch ungewiss wäre, sondern er wiederholt, was er soeben sagte: Ich strebe noch immer vorwärts, weil ich das Ziel meiner Berufung noch nicht erreicht habe. Das aber beteuert er immer wieder, dass mit Hintansetzung alles anderen diesem Fortschritt seine ganze Kraft gewidmet ist. Dabei vergleicht er unser Leben mit einer Laufbahn, die Gott uns abgesteckt hat. Wie es nun einem Wettläufer nichts nützt, dass er aus den Schranken herausgetreten ist, wenn er nicht bis zum Ziele fortläuft, so müssen auch wir den Lauf unserer Berufung bis zum Tode fortführen, und dürfen nicht eher rasten, als bis wir das erreicht haben, nach dem wir streben. Weiter ist dem Wettläufer sein Weg genau bezeichnet, damit er nicht durch Hin- und Herlaufen sich ermüde, ohne dem Ziele näher zu kommen: Genau so ward auch uns das Ziel festgesetzt, auf dass wir gerade losgehen müssen, und Gott duldet es nicht, dass wir auf gut Glück herumschweifen. Drittens muss ein Läufer leicht geschürzt sein, darf bei keinem Hindernisse Halt machen, sondern muss ohne Aufenthalt eilig seinen Lauf fortsetzen: So sollen auch wir uns hüten, dass wir durch keine Ableitungen unseren Geist und unser Herz abziehen lassen; sondern wir müssen uns vielmehr Mühe geben, dass wir frei von allem, was uns ablenken könnte, unser ganzes Streben allein auf die göttliche Berufung richten. Diese drei Stücke erscheinen in dem Bilde des Apostels zusammengefasst. Wenn er sagt: Ich strecke mich zu dem, das da vorne ist, so erinnert er damit an die zum Ziel strebende Stetigkeit seines Laufes, die sich durch nichts aufhalten lässt. Fügt er hinzu: ich jage nach dem vorgesteckten Ziel, so will er sagen, dass er niemals vom Wege abirrt.

Ich vergesse, was dahinten ist. – Auch dies trifft auf den Wettläufer zu, der niemals das Auge zurückwendet, damit nicht die Schnelligkeit seines Laufes gehemmt werde, vor allem aber nicht hinter sich blickt, um zu sehen, welchen Raum er schon durchmessen hat, sondern stracks dem Ziele zueilt. Ganz ebenso will auch Paulus nicht zurückschauen auf das, was er früher war und trieb, sondern will alle Kräfte auf das ihm bestimmte Ziel richten, und zwar mit solchem Eifer, dass er demselben wie mit ausgebreiteten Armen entgegenfliegt. Wenn nun jemand einwenden würde, die Betrachtung des vergangenen Lebens sei nützlich, um uns anzutreiben, da sowohl die Gnade, die wir schon empfangen haben, uns Mut gebe für die Zukunft, als auch die Erinnerung an unsere Sünden uns immerdar mahne, unser Leben zu bessern, so antworte ich, dass dergleichen Gedanken unseren Blick nicht von vorne nach hinten richten, sondern vielmehr ihn schärfen, dass wir das Ziel noch schärfer ins Auge fassen. Paulus verurteilt hier nur solche Rückblicke, welche die Schnelligkeit aufheben oder vermindern. So zum Beispiel, wenn jemand in der Meinung, dass er genügende Fortschritte gemacht habe, am Ziele zu sein glaubt und infolgedessen träge wird und anderen das Weiterstreben überlässt. Oder wenn jemand sich durch die Sehnsucht nach dem, was er etwa aufgegeben, derartig hinnehmen lässt, dass sein Eifer für das, was er gegenwärtig zu treiben hat, erschlafft. Weil aber dabei immer von Streben, Eifer, Rennen und Beharren die Rede ist, wobei leicht der Gedanke aufkommen kann, dass auf solche menschliche Regsamkeit sich die Seligkeit gründe, so fügt Paulus endlich noch hinzu (in Vers 14): in Christo Jesu. Damit bezeichnet er die Grundkraft alles unseres Strebens.

Wie viel nun unser vollkommen sind, die lasset uns also gesinnt sein. – Damit nicht der Durchschnittsverstand wähne, es handle sich hier um eine Vorschrift lediglich für Kinder in Christus und Anfänger, so gibt der Apostel ganz klar zu verstehen, dass seine Rede ausnahmslos auch die „Vollkommenen“ angeht. Für sie schreibt er als Regel vor, dass sie alles Vertrauens auf andere Dinge sich entschlagen sollen, um allein in Christi Gerechtigkeit sich zu rühmen und mit Hintansetzung alles anderen nach der Gemeinschaft seiner Leiden trachten sollen, die uns zur seligen Auferstehung führt. Wo bleibt aber dann der Stand der Vollkommenheit, von welchem die Mönche träumen? Wo der ganze zusammengetragene Haufe von Menschenfündlein? Wo bleibt die ganze Papisterei, die nichts anderes ist als eine eingebildete Vollkommenheit, welche der hier von Paulus aufgestellten Regel geradezu ins Gesicht schlägt? Wahrlich, wer nur dieses eine Wort verstanden hat, wird leicht erkennen, dass alles stinkender Unrat ist, was man unter dem Papsttum über den Erwerb der Gerechtigkeit und Seligkeit lehrt.

Und solltet ihr sonst etwas halten, das lasset euch Gott offenbaren. – Dem Apostel liegt ebenso viel daran, seine Leser zu demütigen, wie sie zu guter Hoffnung aufzurichten. Denn er ermahnt sie, nicht in ihrer Unwissenheit stolz zu werden, und heißt sie doch guten Mutes sein, wenn er sie darauf warten lehrt, dass ihnen Gott etwas offenbaren werde. Wissen wir doch, wie ein rechthaberischer Eigensinn der Wahrheit den Eingang verschließt. Wollen wir also wirklich etwas lernen, so müssen wir zuerst aufhören, uns selbst in unseren Irrtümern zu gefallen. Eben darum weist der Apostel leise darauf hin, dass wenn wir noch nicht erreicht haben, was wir suchen, es gelten wird, göttlicher Offenbarung Raum zu geben. Vernehmen wir dabei, dass sich nur ein stufenweiser Fortschritt erwarten lässt, so macht uns dies Mut, dass wir nicht etwa mitten im Laufe abspringen. Indessen will Paulus die soeben vorgetragene Lehre keineswegs als noch fragwürdig hinstellen; er stellt ja in Aussicht, dass anderen Leuten, die „sonst etwas halten“, das heißt, die anderer Meinung sind, Gott offenbaren werde, was sie noch nicht wissen. Das heißt doch: Gott selbst wird euch dereinst schon zeigen, dass genau das, was ich gesagt habe, als vollkommene Regel rechter Lehre und richten Lebens gelten muss. So könnte niemand reden, der nicht von der Begründung und Wahrheit seiner Lehre fest überzeugt wäre. Doch wollen wir auch aus dieser Aussage lernen, dass man bei schwachen Brüdern die Unwissenheit eine Weile tragen und es ihnen nachsehen soll, wenn ihnen noch nicht gegeben ward, uns völlig beizustimmen. Paulus hegte an seiner Lehre keinen Zweifel, und trotzdem gibt er Leuten, die sie noch nicht anzunehmen vermochten, Zeit zum weiteren Ausreifen, hört auch nicht auf, diese Leute als Brüder anzusehen. Nur dafür sorgt er, dass sie sich in ihrem Irrtum nicht etwa gar gefallen möchten.

Dass wir nach derselben Regel, darein wir kommen sind, wandeln. – Mochte auch dieser oder jener noch nicht verstanden haben, worin die wahre Vollkommenheit besteht, so will ihn Paulus doch dahin führen, dass man endlich nach einer Regel und in einem Sinne wandeln möchte. Und wo nur wahre Liebe waltet, wie sie den Apostel regierte, muss sich ja ein Weg zu heiliger und frommer Eintracht auftun. Darum ruft er auf, man möge ihm nachfolgen, das heißt mit reinem Gewissen Gott suchen, sich vor selbstzufriedener Anmaßung hüten und seine Gedanken demütig Christus unterwerfen (Vers 17): Folget mir, lieben Brüder! In dieser Nachfolge des Apostels sind mancherlei Tugenden beschlossen: Rechter Eifer, Furcht Gottes, Bescheidenheit, Selbstverleugnung, Lernbegier, liebevolles Trachten nach Vereinigung. Auf diesem Wege wird es sich erreichen lassen, dass man einmütig und gleichen Sinnes werde. Als Ziel dieser Vollkommenheit, zu welcher der Apostel die Philipper in seinen Fußtapfen führen möchte, bezeichnet er dabei ausdrücklich, dass sie „nach derselben“, das heißt nach einerlei Regel, wandeln sollen. Diese maßgebende Regel hat er aber kurz zuvor in seiner Lehre gegeben, in welcher man sich zusammenfinden soll.

Sehet auf die, die also wandeln, wie ihr uns habt zum Vorbilde. – An welche Persönlichkeit man sich genauer anschließt, ist dem Apostel gleichgültig, wenn man nur nach dem reinen Vorbilde sich bilden lässt, von welchem er selbst ein Abdruck ist. Diese Wendung muss jeden Verdacht verscheuchen, als suche Paulus seine Ehre. Wer dies tut, stellt ja sich nicht leicht mit anderen in eine Reihe. Freilich empfangen wir auch eine Erinnerung, dass man nicht unterschiedslos jedes Vorbild wählen soll. Hierüber folgt noch eine sehr vernehmliche Aussprache.