Calvins einleitende Worte zum Jakobusbrief
Dieser Brief ist einst bei vielen Gemeinden nicht ohne Widerspruch in die Sammlung der für den Gottesdienst bestimmten Schriften aufgenommen worden. Das wissen wir durch das Zeugnis des Hieronymus und Eusebius.
Auch heute ist der Widerspruch gegen das kanonische Ansehen des Jakobusbriefes keineswegs verstummt. Ich meinesteils finde jedoch keinen ausreichenden Grund, ihn abzulehnen, und nehme ihn voller Zustimmung auf. Denn den Anschein, als würde im zweiten Kapitel die Lehre von der Rechtfertigung allein aus Gnade erschüttert, werden wir seines Ortes leicht zerstreuen. Wenn man weiter Anlass zu dem Verdacht zu haben glaubt, Jakobus hebe denn doch die Gnade Christi zu wenig hervor, als dass man ihm apostolischen Charakter beilegen könne, so ist doch gewiss nicht von allen biblischen Schriftstellern zu fordern, dass ihre Lehre genau die gleichen Gegenstände behandle. Welch ein Unterschied ist zwischen dem Psalter und den Sprüchen! Haben diese ihr Augenmerk gerichtet mehr auf die äußere Bildung des Menschen und die Vermittlung politischer Weisheit, so redet jener offenbar fortwährend über den geistlichen Gottesdienst und Gewissensfrieden, über Gottes Barmherzigkeit und die Verheißung des Heils allein aus Gnade. Aber aus dieser Verschiedenheit folgt nicht, dass die Billigung der einen Schrift die Verwerfung der anderen bedeuten müsste. Ja, auch unter den Evangelisten selbst herrscht ein derartiger Unterschied in der Darstellung des Heilandes, dass die drei ersten im Vergleich mit Johannes kaum hie und da einen Strahl haben von dem Vollglanz der Herrlichkeit, der dort so hell zu Geltung kommt – und dennoch halten wir alle vier Evangelien mit gleicher Freude fest. Mir genügt es deshalb zur Anerkennung des Briefes vollkommen, dass er nichts eines Apostels Unwürdiges enthält; ist er doch gesättigt von mannigfaltigem Lehrstoff, dessen Bedeutung für alle Seiten des Christenlebens klar zutage liegt. Denn hier finden wir vortreffliche Sentenzen über Geduld und Gebet, über die Wirksamkeit und Frucht der himmlischen Lehre, über Demut, heilige Prüfungen, die Zügelung der Zunge, Friedfertigkeit, Unterjochung der Lüste, Verachtung des gegenwärtigen Lebens und dergleichen – an ihrem Ort werden wir jede im Einzelnen untersuchen.
Was nun weiter die Frage nach dem Verfasser angeht, so ist hier dem Zweifel viel Raum gelassen. Das ist freilich gewiss, dass es nicht der Sohn des Zebedäus sein kann, den Herodes bald nach der Auferstehung Christi hinrichtete (Apostelgeschichte 12.2). Ziemlich Übereinstimmung findet bei den Alten darüber statt, dass es einer der Jünger gewesen sei, der den Beinamen Oblias getragen habe, ein Verwandter Christi und Vorstand der Gemeinde in Jerusalem gewesen sei. Und sie meinen, es sei derselbe, den Paulus im Galaterbrief (2.9) mit Petrus und Johannes zusammenstellt und sagt, diese drei würden ja für „Säulen der Gemeinde“ angesehen. Mir freilich ist das wenig wahrscheinlich, dass ein gewöhnlicher Jesusjünger unter die drei Säulen gezählt und über zehn Apostel erhoben sein sollte. Ich neige daher lieber der Vermutung zu, dass der von Paulus gemeinte Jakobus Alphäi Sohn war. Obwohl ich keineswegs bestreiten will, dass ein anderer Jakobus, und zwar aus der Jünger Schar, der Vorsteher der Gemeinde in Jerusalem gewesen sei – denn die Apostel durften nicht an bestimmte Orte gefesselt sein. Wer aber von diesen beiden der Verfasser vorliegenden Briefes ist, das möchte ich dahingestellt sein lassen. Dass jener Oblias bei den Juden das größte Ansehen genossen hat, erhellt auch daraus, dass Josephus gewiss ist, die Zerstörung Jerusalems sei gutenteils dem durch den Tod dieses Oblias heraufbeschworenen Verhängnis entsprungen – er war nämlich infolge von Umtrieben des gottlosen Hohenpriesters grausam zu Tode gebracht worden.