von Vicki Baum
Verlag: Kiepenheuer & Witsch
Leseprobe
„Ja, wie stellen Sie sich das mit dem Leben vor?“ erwiderte darauf Doktor Otternschlag. „Gibt es das Leben überhaupt, wie Sie es sich vorstellen? Das Eigentlich geschieht immer woanders. Wenn man jung ist, denkt man: Später. Später denkt man: Früher war es das Leben. Wenn man hier ist, dann denkt man, es ist dort, in Indien, in Amerika, am Popocatepetl oder sonst wo. Aber wenn man dort ist, dann hat sich das Leben gerade weggeschlichen und wartet ganz still hier, hier, wo man davon gerannt ist. Mit dem Leben geht es, wie es dem Schmetterlingsjäger mit dem Schwalbenschwanz geht. Wenn man ihn fortfliegen sieht, ist er wunderbar. Wenn man ihn gefangen hat, sind die Farben abgegangen und die Flügel lädiert.“
Weil Kringelein zum ersten Mal einige zusammenhängende Sätze aus Doktor Otternschlags Mund zu hören bekam, machten sie ihm Eindruck, aber er glaubte sie nicht. „Das glaube ich nicht“, sagte er bescheiden.
(Ausschnitt aus: Vicki Baum – Menschen im Hotel; Kiepenheuer & Witsch)
Inhalt
Die Geschichte verschiedener Personen, deren Wege sich im Berliner „Grand Hotel“ kreuzen; gemeinsame Wege und getrennte Bahnen: Ehrliche Betrüger und betrügerische Ehrenmänner, lebende Todkranke und sterbende Gesunde, Karrieren vor dem Abgrund und Menschen, die „vorher nie gelebt haben“ – ein vielschichtiges Potpourri unterschiedlicher Charaktere und ihre Verwebungen untereinander im Kosmos der später 1920er Jahre…
Biographie
Vicky Baum wurde als Hedwig Baum 1888 in Wien geboren. Ihr erste Karriere erfolgte als Harfenistin, bis sie in zweiter Ehe ab 1916 ihrer späteren Profession als Schriftstellerin nachging. Als während ihres Amerika-Aufenthaltes die Nationalsozialisten im Deutschen Reich an die Macht kamen, emigrierte sie vollständig in die USA/Kalifornien und erhielt 1936 die amerikanische Staatsbürgerschaft. 1960 verstarb sie in Los Angeles.
Bewertung
Ein sehr lesenswerter Roman, der eine charakterliche Studie einzelner Gesellschafts-Typen Ende der 1920er Jahre zeigt – der Zeit von (einseitigem) Wohlstand und Dekadenz kurz vor dem Beginn der Weltwirtschaftskrise 1929.
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