von Karl May
Verlag: Karl May Verlag Bamberg - Radebeul
Leseprobe
Er rief ein Indianerwort, das ich nicht verstand, in den Wald zurück, worauf zwei eindrucksvolle Gestalten erschienen und langsam und würdevoll auf uns zukamen. Es waren Indianer, und zwar Vater und Sohn, wie man auf den ersten Blick erkennen musste.
Der ältere war von etwas mehr als mittlerer Gestalt, dabei sehr kräftig gebaut. Seine Haltung zeigte etwas wirklich Edles, und aus seinen Bewegungen konnte man auf große körperliche Gewandtheit schließen. Sein ernstes Gesicht war echt indianisch, doch nicht so scharf und eckig wie bei den meisten Roten. Sein Auge besaß einen ruhigen, beinahe milden Ausdruck, den Ausdruck einer stillen, inneren Sammlung, die ihn bestimmt seinen Stammesgenossen überlegen machen musste. Sein Kopf war unbedeckt. Das dunkle Haar hatte er in einen helmartigen Schopf aufgebunden, worin eine Adlerfeder steckte, das Zeichen der Häuptlingswürde. Der Anzug bestand aus Mokassins, ausgefransten Leggins und einem ledernen Jagdrock, alles sehr einfach und dauerhaft gefertigt. Im Gürtel steckte ein Messer, ferner hingen daran mehrere Beutel, worin alle die Kleinigkeiten verwahrt wurden, die einem im Westen nötig sind. Der Medizinbeutel war an einer Halsschnur befestigt, daneben die Friedenspfeife mit dem aus heiligem Ton geschnittenen Kopf. In der Hand hielt er ein doppelläufiges Gewehr, dessen Holzteile dicht mit silbernen Nägeln beschlagen waren. Das war das Gewehr, das sein Sohn später unter dem Namen Silberbüchse zu so großer Berühmtheit bringen sollte.
Der jüngere war genauso gekleidet wie sein Vater, nur dass sein Anzug zierlicher gefertigt war. Seine Mokassins waren mit Stachelschweinborsten und die Nähte seiner Leggins und des Jagdrocks mit feinen, roten Zierstichen geschmückt. Auch er trug den Medizinbeutel am Hals und das Kalumet dazu. Seine Bewaffnung bestand wie bei seinem Vater aus einem Messer und einem Doppelgewehr. Er trug ebenfalls den Kopf unbedeckt und hatte das Haar zu einem helmartigen Schopf aufgebunden, durchflochten mit einer Klapperschlangenhaut, aber ohne es mit einer Feder zu schmücken. Es war so lang, dass es dann noch reich und schwer auf den Rücken niederfiel. Gewiss hätte ihn manche Frau um diesen herrlichen, blauschimmernden Schmuck beneidet. Sein Gesicht war fast noch edler als das seines Vaters und die Farbe ein mattes Hellbraun mit einem leisen Bronzehauch. Er stand, wie ich jetzt erriet und später erfuhr, mit mir ungefähr im gleichen Alter und machte schon heut, da ich ihn zum ersten Mal erblickte, einen tiefen Eindruck auf mich. Ich fühlte, dass er ein guter Mensch sei und außergewöhnliche Begabung besitzen müsse. Wir betrachteten einander mit einem langen, forschenden Blick, und dann glaubte ich zu bemerken, dass in seinem ernsten dunklen Auge, das einen samtartigen Glanz hatte, für einen kurzen Augenblick ein freundliches Licht aufleuchtete, wie ein Gruß, den die Sonne durch eine Wolkenöffnung auf die Erde sendet.
„Das sind meine Freunde und Begleiter“, sagte Klekih-petra, indem er erst auf den Vater und dann auf den Sohn deutete. „Dieser ist Intschu tschuna, der große Häuptling der Mescaleros, der auch von allen übrigen Apatschenstämmen als Häuptling anerkannt wird. Und hier steht sein Sohn Winnetou, der trotz seiner Jugend schon mehr kühne Taten verrichtet hat als sonst fünf alte Krieger in ihrem ganzen Leben. Sein Name wird einst genannt und gerühmt werden, soweit die Savannen und die Felsengebirge reichen.“
(Ausschnitt aus: Karl May – Winnetou I; Karl May Verlag Bamberg - Radebeul)
Inhalt
Zwei Feinde! Doch aus zwei Feinden werden Freunde: Winnetou ist die Geschichte einer Freundschaft: Die Freundschaft zwischen einem Weißen und einem Roten – die Freundschaft zwischen einem „Wilden“ und dem „Menschen aus der Zivilisation“. Eine Freundschaft über den Tod hinaus.
Karl May alias Old Shatterhand wird als Landvermesser bei den Streckenarbeiten der Bahn eingestellt und zieht als Greenhorn in den Westen – die „Finsteren und blutigen Gründe“. Doch schnell macht er sich durch seine Taten und sein Verhalten einen Namen. Und schnell kommt es zu ersten Konfrontationen: Mit der Natur gleichwie den Indianern als auch niederträchtigen, überheblichen Weißen. Eine Konfrontation, in deren Mittelpunkt Winnetou und Old Shatterhand stehen…
Biographie
Karl May wird 1842 in Ernstthal geboren. Anfangs arbeitet er als Hilfslehrer, kommt aber schon früh mit dem Gesetz in Konflikt. Nach anfänglichen kleineren Vergehen und Betrügereien im Jahre 1861 sowie den Folgejahren sitzt Karl May wiederholte Male im Gefängnis und landet von 1870 bis 1874 sogar für vier Jahre im Zuchthaus. Im Jahre beginnt er als Zeitschriftenredakteur in Dresden beim Münchmeyer-Verlag. Es folgen in den nächsten Jahren die ersten Veröffentlichungen, allerdings auch wiederholte Straffälligkeit Karl Mays mit erneutem Gefängnisaufenthalt. Im Jahre 1881 erscheint der Balkan-Zyklus, in den folgenden Jahren entstehen seine bedeutendsten Romane, 1893 erscheint die Winnetou-Saga. 1897 Beginn seiner Reisetätigkeit mit Vorträgen, 1899 Orientreise bis nach Sumatra. Im gleichen Jahr beginnen die mehrere Jahre dauernden Angriffe der Presse auf Karl May. 1904 erscheint mit Und Friede auf Erden das erste Buch seines symbolistisch geprägten Spätwerks. 1908 bereist er die Vereinigten Staaten. 1912 stirbt Karl May in Radebeul.
Bewertung
Karl Mays Winnetou ist wohl eine der eindrucksvollsten Helden, die es im Western-Genre gibt. Man kann Winnetou als Abenteuerroman lesen – dann ist das Buch spannend und unterhaltsam erzählt. Man kann Winnetou in seinem geschichtlichen Zusammenhang lesen – und erlangt so einen Überblick über die Denkweise sowie die Lebensweise der damaligen Zeit. Und man kann Winnetou als Aufschrei einer Kultur lesen – und erlebt hautnah die Anklage der indianischen Rasse an die europäischen Eroberer. So ist und bleibt Winnetou ein Abenteuerroman, der in seiner Vielseitigkeit den Leser in eine vergangene Welt entführt, wobei Karl May immer wieder die Rassenkonflikt sowie religiöse Aspekte in seine Geschichte hineinwebt.
Meiner Meinung nach gehört Winnetou zu den Büchern, die jeder in seinem Leben zweimal gelesen haben muss: Einmal in jungen Jahren als Abenteuergeschichte und einmal als Erwachsener, um die historischen und sozialen Konflikte zu verstehen…
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