von Fjodor M. Dostojewski:
Verlag: Insel Taschenbuch
Leseprobe
„Sie sind verrückt“, sagte Sametow, unwillkürlich gleichfalls beinahe flüsternd, und rückte von Raskolnikow weg.
Diesem funkelten die Augen; er war erschreckend bleich geworden; seine Oberlippe zuckte und zitterte. Er beugte sich ganz nah zu Sametow hin und bewegte die Lippen, ohne ein Wort zu sprechen; das dauerte etwa eine halbe Minute.
Er wusste, was er tat, hatte aber die Herrschaft über sich verloren. Wie damals der Haken an der Tür, so hüpfte jetzt ein furchtbares Wort auf seinen Lippen; jeden Augenblick konnte es sich loslösen, jeden Augenblick; er brauchte es nur aus dem Mund herauszulassen, es nur auszusprechen!
„Und wenn ich nun wirklich das alte Weib und Lisaweta ermordet hätte?“ sagte er plötzlich – und kam wieder zur Besinnung.
Sametow blickte ihn verstört an und wurde kreidebleich. Sein Gesicht verzerrte sich zu einem Lächeln.
„Wie wäre das wohl möglich?“ sagte er kaum hörbar.
Raskolnikow blickte ihn grimmig an.
„Gestehen Sie nur: Sie haben es geglaubt…? Ja? Nicht wahr?“
„Durchaus nicht! Ich glaube es jetzt weniger als je!“ rief Sametow hastig.
„Nun ist er eingegangen, endlich! Nun haben wir das Spätzchen erwischt! Also haben Sie es früher doch geglaubt, wenn Sie es jetzt ‚weniger als je‘ glauben?“
„Aber durchaus nicht!“ rief Sametow, augenscheinlich äußerst verlegen. „Also nur darum haben Sie mir mit Ihren Reden einen Schreck eingejagt, um mich zu einem solchen Geständnis zu bringen?“
(Ausschnitt aus: Fjodor M. Dostojewski – Schuld und Sühne; Insel Verlag)
Inhalt
Der ehemalige Student Rodion Raskolnikow lebt in ärmlichen Verhältnissen – zurückgezogen und mit sich und seinen politisch-sozialen Gedanken und Axiomen beschäftigt. Die Frage, die sein Denken umwebt und ausfüllt: Hat eine Person – eine höhere - das Recht und die Pflicht, einen Mord zu begehen, um die höheren Ziele zum Wohl der Menschheit zu erlangen?! Diese Theorie setzt er um und ermordet eine alte Pfandleiherin und – durch Zufall – ihr Schwester. Und damit setzt in seinem Denken ein weiter Prozess ein, verstärkt durch soziale Ereignisse und Krankheit…
Biographie
Fjodor Michailowitsch Dostojewski wurde 1821 in Moskau geboren und starb 1881 mit noch 59 Jahren in St. Petersburg – ein Kind des Russlands im 19. Jahrhundert: Geprägt von den starken Umwälzungen der damaligen Zeit, beeinflusst von den Strömungen des Frühsozialismus und revolutionärer Strömungen, Verbannung nach Sibirien, finanziell häufig am Existenzminimum, leidend unter Epilepsie und Spielsucht – all dies fließt in seine vielschichtigen, psychologisch tiefgreifenden Romane, Novellen und Erzählungen seiner literarischen Laufbahn ein. Heute gilt Dostojewski als einer der einflussreichsten Literraten des 19. Jahrhunderts und als einer der Neubegründer der europäischen Romanliteratur.
Bewertung
Schuld und Sühne gehört zu meinen Top 3 Büchern: Die psychologische Vielschichtigkeit der Personen, die sozialen Umstände und Begebenheiten, die politischen und sozialen Strömungen, der Spannungsbogen und die Nebenhandlungen, aber auch die Beschreibungen der Stadt St. Petersburg sowie der gesamten Umwelt – all dies macht Schuld und Sühne zu einem einzigartigen Roman!
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