Römer 12.9-13
Die Liebe sei nicht falsch. Hasset das Arge, hanget dem Guten an. Die brüderliche Liebe untereinander sei herzlich. Einer komme dem andern mit Ehrerbietung zuvor. Seid nicht träge in dem, was ihr tun sollt. Seid brünstig im Geiste. Schicket euch in die Zeit. Seid fröhlich in Hoffnung, geduldig in Trübsal, haltet an am Gebet. Nehmet euch der Notdurft der Heiligen an. Herberget gern.
Die Liebe sei nicht falsch. Hasset das Arge, hanget dem Guten an. – Indem der Apostel nun zu den Pflichten jedes einzelnen Christen übergeht, macht er billig den Anfang mit der Liebe, welche das Band der Vollkommenheit ist. Er gibt darüber die sehr nötige Vorschrift, dass die Liebe, frei von jedem falschen Schein, aus einem reinen und treuen Herzen kommen soll. Denn es lässt sich kaum beschreiben, wie erfinderisch fast alle Menschen darin sind, eine Liebe zu heucheln, die sie gar nicht haben. Sie belügen nicht bloß andere, sondern auch sich selbst, und reden sich ein, dass sie Leuten, die ihnen in Wirklichkeit nicht bloß gleichgültig, sondern verhasst sind, eine hinreichende Liebe zuteilwerden lassen. Deshalb will Paulus nur solche Liebe als echt anerkennen, die sich von jeder Heuchelei freihält. Es kann sich aber jeder selbst bezeugen, ob er im verborgensten Grunde seines Herzens nichts trägt, das der Liebe widerstreitet. Wenn der Apostel die weitere Mahnung gibt: Hasset das Arge, hanget dem Guten an, so will diese nicht in blasser Allgemeinheit verstanden sein; vielmehr weist der Zusammenhang darauf hin, dass unter dem „Argen“ ein missgünstiger und ungerechter Sinn verstanden sein soll, welcher den Menschen unbedenklich Schaden zufügt. Das „Gute“ ist dann der freundliche, hilfsbereite Sinn, welcher den Nebenmenschen gern Wohltaten erweist. Die Schrift liebt es, durch solche Gegenüberstellung des Lasters und der Tugend ihre Mahnungen besonders eindringlich zu machen. Der Hass gegen das Arge, welchen uns der Apostel einflößen will, ist natürlich nicht eine bloße Stimmung; wie wir dem Guten tätig anhangen sollen, so sollen wir vielmehr den argen Sinn kräftig abstoßen.
Die brüderliche Liebe untereinander sei herzlich. Einer komme dem andern mit Ehrerbietung zuvor. – Der Apostel kann nicht Worte genug finden, um die Innigkeit der Liebe zu beschreiben, welche die Christen untereinander verbinden soll. So brüderlich und herzlich sollen sie miteinander umgehen, als wären sie leibliche Geschwister. Solche Liebe müssen wir den Kindern Gottes entgegen bringen. Der Apostel hilft uns dazu mit einem neuen Winke: Einer komme dem andern mit Ehrerbietung zuvor. Gegenseitige Geringschätzung ist ja ein Gift, welches die Zuneigung zueinander am wirksamsten tötet. Nichts stört die brüderliche Eintracht gründlicher als der wegwerfende Hochmut, welcher den andern verachtet, um sich selbst zu erheben. Und umgekehrt gibt es kein besseres Band der Liebe als die Bescheidenheit, die jedem seine Ehre lässt.
Seid nicht träge in dem, was ihr tun sollt. Seid brünstig im Geiste. Schicket euch in die Zeit. – Auch diese Mahnung will nicht bloß im Allgemeinen besagen, dass ein christliches Leben sich stets tätig erweisen soll. Sie will uns insbesondere ans Herz legen, unter Hintanstellung des eignen Nutzens den Brüdern unsern Dienst zu weihen, und zwar nicht bloß den guten, sondern oft gar unwürdigen und undankbaren. Bei allen solchen Pflichten müssen wir uns selbst vergessen; darum ist die Erinnerung nötig, dass wir uns selbst nicht nachgeben dürfen, vielmehr alle Trägheit abschütteln müssen. Anders können wir nie uns für Christi Dienst völlig frei machen. Wenn es weiter heißt: Seid brünstig im Geist, so weist uns dies den Weg zu solchem Eifer. Das Fleisch geht immer in stumpfer Trägheit dahin, wie ein Esel; es bedarf stets, gestachelt und getrieben zu werden. Nur brünstiger Eifer des Geistes vermag unsere Bequemlichkeit zu überwinden. Sollen wir fortgehend Gutes tun, so muss der Geist Gottes in unserm Herzen den rechten Eifer dafür entzünden. Dabei könnte aber jemand fragen, was dann die Ermahnung des Paulus überhaupt helfen könne. Ich antworte, dass zwar Gott uns den rechten Eifer schenkt; die Gläubigen aber haben wider ihre eigne Trägheit anzukämpfen und müssen die von Gott entfachte Flamme in sich aufnehmen. Geschieht es doch nur zu oft, dass unser verkehrtes Wesen den Trieb des Geistes dämpft und erstickt. Ebendahin zielt das dritte Wort: Schicket euch in die Zeit. Denn kurz ist unser Lebenslauf, und die Gelegenheit, Gutes zu tun, eilt vorüber. Darum gilt es, eifrig zuzugreifen, wenn wir etwas leisten wollen. In demselben Sinne sagt Paulus in Epheser 5.16: „Kaufet die Zeit aus.“ Denn an unserer Stelle wird er nicht den an sich richtigen Gedanken einprägen wollen, dass wir uns in die Umstände der Zeit fügen, sondern vielmehr, dass wir nicht säumen und uns schicken sollen, die Gelegenheit der Zeit zu nützen. Übrigens bieten viele alte Handschriften vielmehr die Lesart: „Dienet dem Herrn“. Wenn dieselbe richtig sein sollte [Anmerkung: Sie ist wohl tatsächlich richtig!], so würde der Apostel zu verstehen geben, dass jeder Liebesdienst an den Brüdern im tiefsten Grunde ein Gottesdienst ist. So würde unser Eifer einen besonderen Antrieb empfangen.
Seid fröhlich in Hoffnung. – Auch die drei Worte dieses Verses sind eng sowohl untereinander als mit den vorangehenden Mahnungen verknüpft. Werden wir doch am besten imstande sein, Gutes zu tun und jede Gelegenheit dafür nützen, wenn wir fröhlich in der Hoffnung auf das ewige Leben ausruhen und dadurch alle gegenwärtige Unruhe geduldig tragen lernen. Wir suchen dann unsere Freude und unser Glück nicht mehr auf Erden und in diesseitigen Gütern, sondern richten unsern Sinn gen Himmel zu voller und beständiger Freude. Solche Freude gründet sich auf die Hoffnung des ewigen Lebens; darum überwiegt sie allen gegenwärtigen Schmerz. So hängt am ersten das zweite: Geduldig in Trübsal. Nur wer sein Glück jenseits der Welt sicher geborgen weiß, der wird bereitwillig und geduldig jeden Schmerz tragen und durch den Trost der Hoffnung die Bitterkeit des Leides mildern und lindern. Da wir aber dies beides mit unserer Kraft bei weitem nicht zu zwingen vermögen, so fügt der Apostel hinzu: Haltet an am Gebet. Wir sollen Gott bitten, dass Er unsern Mut nicht wanken und fallen lasse oder ihn durch das Unglück gar zerbreche. Aber der Apostel mahnt uns nicht bloß zum Beten überhaupt, sondern zu anhaltendem Gebet. Wir müssen immer unter den Waffen stehen; denn täglich erhebt sich mannigfacher Aufruhr, den auch der Tapferste nicht niederschlagen kann, wenn er nicht stets neue Kraft schöpft. Das bewährteste Mittel gegen die Erschlaffung ist aber das Gebet ohne Unterlass.
Nehmet euch der Notdurft der Heiligen an. – Jetzt lenkt die Rede wieder auf die Liebespflichten zurück, deren vornehmste es ist, denen Gutes zu tun, von welchen wir eine Vergeltung nicht erwarten können. Da nun nach dem gewöhnlichen Lauf der Welt die bedrängtesten und hilfsbedürftigsten Leute am ehesten übergangen werden, weil die Menschen glauben, dass mit allen Wohltaten doch nicht zu helfen sei, so legt uns Gott eben sie am dringendsten aufs Herz. Wahre Liebe kennt ja nur einen Gesichtspunkt – sie will Gutes tun. So sollen wir den Brüdern helfen, die der Hilfe bedürfen. Ein Hauptstück solcher Liebe wird ausdrücklich genannt: Herberget gern. Haben doch die Fremden, die fern von ihren Lieben sich leicht verlassen fühlen, Wohlwollen und Freundlichkeit besonders nötig. Wir sehen also, dass uns ein Mensch umso mehr aufs Herz gelegt werden soll, je weniger andere sich um ihn kümmern. Solcher Menschen sollen wir uns „annehmen“, als wären sie ein Stück von uns selbst. Insbesondere sollen wir den „Heiligen“ unsere Hilfe zuwenden; denn wenn auch unsere Liebe das ganze Menschengeschlecht umspannen muss, so wird doch ein besonderer Zug der Zuneigung uns mit den Glaubensgenossen verbinden.