von Vladimir Nabokov
Verlag: Rowohlt
Leseprobe
„Einen Augenblick!“ rief Cincinnatus. „Ich habe die Bücher alle ausgelesen. Bringen Sie mir den Katalog noch einmal.“ „Bücher…“, höhnte Rodion gereizt und schloss mit lautem Nachdruck die Tür hinter sich.
Welche Qual! Cincinnatus, welche Qual! Welche bleierne Qual, Cincinnatus – der unbarmherzige Schlag der Uhr und die feiste Spinne und die gelben Wände und die Rauheit der schwarzen Wolldecke. Die Haut auf der Schokolade. Fasse sie in der Mitte mit zwei Fingern und hebe sie ganz von der Oberfläche ab, nun keine flache Deckschicht mehr, sondern ein zerknitterter kleiner brauner Rock. Die Flüssigkeit darunter ist lauwarm, süßlich und abgestanden. Drei Scheiben Toast mit eingebranntem Schildpattmuster. Eine kleine runde Portion Butter mit dem aufgeprägtem Monogramm des Direktors. Welche Qual, Cincinnatus, wie viele Krümel im Bett!
Er jammerte eine Weile, stöhnte, knackte mit all seinen Gelenken, stand dann von der Pritsche auf, zog sich den verabscheuten Schlafrock an und begann, in der Zelle umherzugehen. Noch einmal untersuchte er alle Aufschriften an den Wänden, in der Hoffnung, irgendwo eine neue zu entdecken. Wie eine junge Krähe auf einem Baumstumpf stand er lange auf einem Stuhl und starrte zu der armseligen Ration Himmel hinauf. Dann ging er noch etwas umher. Noch einmal las er die acht Regeln für die Insassen, die er schon auswendig wusste:
1. Es ist strengstens verboten, das Gefängnisgebäude zu verlassen.
2. Des Häftlings Demut ist des Gefängnisses Stolz.
3. Sie werden dringend ersucht, zwischen 13 und 15 Uhr Ruhe zu bewahren.
4. Es ist untersagt, Besuch von weiblichen Personen zu empfangen.
5. Singen, Tanzen und Scherzen mit den Wärtern ist nur bei gegenseitigem Einverständnis und an bestimmten Tagen gestattet.
6. Es ist wünschenswert, dass der Insasse keine nächtlichen Träume hat – beziehungsweise diese sofort unterdrückt –, deren Inhalt mit der Situation und dem Status eines Häftlings unvereinbar ist, wie zum Beispiel: leuchtende Landschaften, Ausflüge mit Freunden, Familienmahlzeiten sowie Geschlechtsverkehr mit Personen, die im wirklichen Leben und im wachen Zustand besagtes Individuum nicht an sich herankommen ließen, welches Individuum vor dem Gesetz folglich der Notzucht schuldig wird.
7. Insofern als er die Gastfreundschaft des Gefängnisses genießt, sollte der Häftling seinerseits die Mitwirkung an der Reinigung und anderen Arbeiten des Gefängnispersonals in dem Maße, in dem ihm besagte Mitwirkung geboten wird, nicht zu umgehen suchen.
8. Die Direktion haftet unter keinen Umständen für den Verlust von Wertsachen oder des Häftlings selbst.
Qual, Qual, Cincinnatus. Geh noch etwas auf und ab, Cincinnatus, streife mit dem Mantel erst die Wände, dann den Stuhl. Qual! Die auf dem Tisch gestapelten Bücher sind alle ausgelesen. Und obwohl er wusste, dass alle gelesen waren, suchte Cincinnatus, wühlte er, blickte er in einen dicken Band… Ohne sich zu setzen, durchblätterte er die schon bekannten Seiten. Es war ein gebundenes Magazin aus einer lang vergangenen, kaum noch erinnerten Zeit. Die Gefängnisbibliothek, die ihrer Größe und der Seltenheit ihrer Bände wegen als die zweitbeste der Stadt galt, enthielt mehrere solcher Kuriositäten. Das war eine ferne Welt, wo noch Jugend und eine angeborene Anmaßung aus den einfachsten Dingen funkelten, herrührend von der Ehrerbietung, die man ihrer Herstellung gewidmet hatte.
(Ausschnitt aus: Vladimir Nabokov – Einladung zur Enthauptung; Rowohlt Verlag)
Inhalt
Die Geschichte erzählt den letzten Lebensabschnitt des mit dem Tode bestraften Häftlings Cincinnatus. Cincinnatus ist ‚anders’ – wie anders, das erfährt der Leser nicht. Es scheint so, dass auch Cincinnatus es nicht weiß… Doch diese Tatsache genügt, dass Cincinnatus mit dem Tode bestraft wird. Die Erzählung beginnt mit Cincinnatus’ Rückkehr in das Gefängnis nach dem Prozess und schildert das psychische Auf und Ab seiner Gefühle und Hoffnungen, zwischen Tod und Begnadigung. Dabei begegnen Ihm verschiedene Personen während seiner Haftzeit, wie zum Beispiel der Gefängnisdirektor, der Zellenwächter oder seine Exfrau – aber alle diese Personen sind nur um Ihren eigenen Namen und Ihr eigenes Wohl und Gewissen beunruhigt, für sie ist die Hinrichtung nur ein gesellschaftliches Großereignis, bei dem sich der Gefangene ja nicht zu blamieren hat. Eine surreale Geschichte nimmt Ihren Lauf…
Biographie
Vladimir Nabokov wurde 1899 in St. Petersburg geboren. Im Jahre 1919 flieht er aufgrund der Oktober-Revolution nach Westeuropa. 1919 bis 1922 studiert Nabokov in Cambridge russische und französische Literatur. Von 1922 bis 1937 lebt er in Berlin und veröffentlicht unter dem Pseudonym W. Sirin seine ersten Werke. 1937 flieht Nabokov schließlich aus dem Dritten Reich und lebt bis 1940 in Frankreich, von wo aus er dann in die USA emigriert. Dort entsteht 1955 auch sein wohl bekanntester Roman Lolita. 1977 stirbt Nabokov in Montreux.
Bewertung
Nabokov ist es gelungen, mit wenigen Personen einen auf ebenso wenige Handlungsszenen beschränkten, sehr beklemmenden Roman zu schreiben. Die Erzählung ist sehr surreal und wirklichkeitsfremd, dann aber auch wieder sehr realistisch und ernüchternd. Und gerade diese Surrealität macht den Roman so wertvoll. Hierdurch wird die Anspannung des Gefangenen, seine Stimmung und Denkweise in der Situation, zwischen Hoffnung auf Leben und Angst vor dem Tod widergespiegelt; die Verwirrung, das Kreisen der Gedanken zwischen Früher und dem Jetzt, die Frage nach dem Grund, das Unverständnis – all diese Wesenszüge hat Nabokov literarisch dargestellt. Meiner Ansicht nach ist Ihm das sehr gut gelungen…
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