RÖMER

Römer Kapitel 2 Teil V

Römer 2.17-24

Siehe aber zu: Du heißest ein Jude und verlässt dich aufs Gesetz und rühmest dich Gottes und weißt seinen Willen; und weil du aus dem Gesetz unterrichtet bist, prüfest du, was das Beste zu tun sei, und vermissest dich, zu sein ein Leiter der Blinden, ein Licht derer, die in Finsternis sind, ein Züchtiger der Törichten, ein Lehrer der Einfältigen, hast die Form, was zu wissen und recht ist, im Gesetz. Nun lehrst du andere, und lehrst dich selber nicht; du predigst, man solle nicht stehlen, und du stiehlst; du sprichst, man solle nicht ehebrechen, und du brichst die Ehe; dir greuelt vor den Götzen, und du raubst Gott, was sein ist; du rühmest dich des Gesetzes, und schändest Gott durch Übertretung des Gesetzes; denn „eurethalben wird Gottes Name gelästert unter den Heiden“, wie geschrieben steht.

 

Du aber (so nämlich muss nach den besten Handschriften der Text lauten), du heißest ein Jude. – Nach genügender Auseinandersetzung mit den Heiden wendet sich die Rede nunmehr zu den Juden. Deren Selbstbetrug soll vollends zerstört werden. Paulus erkennt alles an, worauf sie so stolz waren. Aber er zeigt, dass es nur zureicht, eine höhere Verantwortlichkeit, nicht aber einen gerechten Stolz zu begründen. Der Name Jude erinnert an alle Vorzüge des Volkes, welche in Gesetz und Propheten ihren Ursprung hatten und an welche Israel abergläubisch sich klammerte. Gemeint sind also alle Israeliten, welche damals sämtlich „Juden“ hießen. Wann dieser Sprachgebrauch sich eingebürgert, lässt sich nicht genau sagen, jedenfalls nach der Gefangenschaft und Zerstreuung. Da hielt sich das ganze zerrissene und zersprengte Volk an den Namen des Stammes Juda, welcher die Reinheit des Gottesdienstes am längsten bewahrt hatte, welcher von jeher eine besondere Würde besaß, aus welchem auch der Erlöser kommen sollte: War doch der Trost dieser Messiashoffnung die letzte Zuflucht. Auf verschiedene andere Gründe, welche die Übertragung des Stammesnamens auf das ganze Volk vielleicht erklären könnten, brauchen wir hier nicht einzugehen; jedenfalls wollen die „Juden“ die Erben des Bundes sein, welchen Gott mit Abraham und seinem Samen geschlossen hat.

Du verlässest dich aufs Gesetz und rühmest dich Gottes. – Nicht, als ob sie das Gesetz ernstlich und vollständig zu halten bestrebt gewesen wären, um sich dann darauf zu verlassen; vielmehr erhebt Paulus den Vorwurf, dass sie ohne Achtsamkeit auf den eigentlichen Zweck des Gesetzes und ohne genügende Sorge für seine Erfüllung in stolzer Selbstzufriedenheit sich auf die eine Überzeugung zurückgezogen hatten, dass Gottes Offenbarungen sie beträfen. Ebenso rühmten sie sich Gottes, nicht wie Gott es nach dem Spruche des Propheten (Jeremia 9.23) haben will, dass man demütig auf allen Selbstruhm verzichtet und seinen Ruhm allein in Ihm sucht. Vielmehr ohne jede wirkliche Erkenntnis der Güte Gottes beanspruchten sie den Gott, dem sie doch innerlich fern standen, in eitler Ruhmsucht vor den Menschen als ihr alleiniges Eigentum und gaben sich für Sein Volk aus. Das war kein Rühmen des Herzens, sondern Prahlerei der Zunge.

Du weißt seinen Willen; und [weil du aus dem Gesetz unterrichtet bist,] prüfest du, was das Beste zu tun sei. – Diese Erkenntnis des göttlichen Willens besaßen die Juden allerdings, und zwar aus dem Gesetze. Von einer prüfenden Auswahl des Guten kann aber in doppelter Weise geredet werden: Einmal denken wir dabei an das wirkliche Erwählen dessen, was man als gut erkannt hat; das andere Mal denken wir nur an das Urteil, kraft dessen man dem Guten vor dem Bösen den Vorzug gibt, ohne vielleicht nur den geringsten Eifer einzusetzen, dasselbe auch zu tun. In dieser letzteren Weise gingen die Juden mit dem Gesetze um: Sie hatten daraus gelernt, sich als Sittenrichter aufzuspielen; aber das eigene Leben diesem Urteil anzupassen, lag ihnen weniger an. Aus dem Tadel, welchen der Apostel gegen solch heuchlerisches Wesen richtet, ergibt sich nun allerdings der Rückschluss, dass (wenn nur das Urteil aus einem lauteren Sinne hervorgehen würde) man da, wo Gottes Offenbarung sich hat vernehmen lassen, tatsächlich zu prüfen vermag, was das Beste zu tun sei; denn der Wille Gottes, wie das Gesetz ihn kundtat, wird hier als Lehrer und Führer zur rechten Prüfung anerkannt.

Und vermissest dich, zu sein ein Leiter der Blinden, ein Licht derer, die in Finsternis sind, ein Züchtiger der Törichten, ein Lehrer der Einfältigen. – Noch mehr wird zugestanden: Die Juden haben nicht allein für sich selbst genug empfangen, sondern sie besitzen noch einen Überschuss für andere. Gott schenkt ihnen einen Überfluss der Lehre, der sich recht wohl auch auf andere überleiten lässt.

Die Worte: Du hast die Form, was zu wissen und recht ist, im Gesetz, geben den Grund an, weshalb der Jude imstande ist, andere zu unterweisen. Deshalb gebärdeten sie sich als Lehrer, weil sie glauben durften, alle Geheimnisse des Gesetzes in ihrer Brust zu tragen. Das Gesetz ist nun nicht irgendeine, sondern die Form der Wahrheit schlechthin, ihre majestätisch-klare Erscheinung. Wenn sie sich prahlend mit dieser Erkenntnis brüsteten, so waren die Juden ohne Zweifel innerlich derselben bar. Aber das lässt sich wiederum gegensätzlich erschließen: Wenn Paulus den Missbrauch des Gesetzes verspottet, so will er dem Gesetze an sich allerdings die richtige und gewisse Wahrheitserkenntnis entnommen wissen.

Nun lehrst du andere, und lehrst dich selber nicht. – Die bisher anerkannten Gaben der Juden hätten einen wirklichen Wert erst empfangen, wenn sie durch noch wahrhaftigere Güter gekrönt worden wären. So aber verdiente die bloße Erkenntnis, welche auch Gottlose besitzen und in schnödem Missbrauch verkehren mochten, eine ernsthafte Anerkennung nicht. Und Paulus, nicht zufrieden der jüdischen Anmaßung einfach entgegenzutreten, sieht sich sogar in der Lage, den Vorzug, auf welchen ein falsches Vertrauen ohne alles Weitere sich stützte, in einen schmählichen Nachteil zu verkehren. Denn dies erscheint doch im höchsten Grade tadelnswert, hohe und herrliche Gaben Gottes nicht bloß ungenützt liegen zu lassen, sondern sogar mit schnödem Missbrauch zu beschmutzen. Und der ist ein wunderlicher Ratgeber, der sich selbst nicht rät und nur für andere klug ist. So wandelt sich das begehrte Lob in Tadel.

Du predigst, man solle nicht stehlen, und du stiehlst. – Das ist wahrscheinlich eine Anspielung an Psalm 50.16-18: „Zu dem Gottlosen spricht Gott: Was verkündigst du meine Rechte und nimmst meinen Bund in deinen Mund, so du doch Zucht hassest, und wirfst meine Worte hinter dich? Wenn du einen Dieb siehst, so läufst du mit ihm und hast Gemeinschaft mit den Ehebrechern.“ Dieser Vorwurf traf die Juden, welche, zufrieden mit dem bloßen Wissen vom Gesetz, so lebten, als hätten sie kein Gesetz. Es ist zu besorgen, dass er auch manchen von uns treffe. Wie viele rühmen sich doch einer besonderen Erkenntnis der evangelischen Wahrheit und stürzen sich dabei in allerlei Unflat, ohne zu bedenken, dass das Evangelium auch eine Regel für das Leben bedeutet. In solcher Sicherheit dürfen wir aber nicht mit Gott spielen; vielmehr sollen wir wissen, dass solche Schwätzer, die Gottes Wort nur auf der Zunge haben, ein schweres Gericht treffen wird.

Dir greuelt vor den Götzen, und du raubst Gott, was sein ist. – Eine feine Gegenüberstellung von Götzendienst und Gottesraub; denn beide Verbrechen gehören zur gleichen Kategorie. Als Gottesraub können wir kurzweg jede Entweihung der göttlichen Majestät bezeichnen. Wo nun, es sei im Heidentum oder mitten in der Christenheit, die Religion in lauter äußerem Glanz besteht und Gottes Majestät an die greifbaren Götzen gehängt wird, versteht man unter Gottesraub freilich viel zu eng nur den Diebstahl von Tempelgut oder die Beseitigung des kirchlichen Prunks. Wir entnehmen hier für uns die Erinnerung, dass man nicht selbstgefällig sich nur an einen Teil des göttlichen Gesetzes halten und darüber andere verachten darf. Ferner, dass wir uns nicht allzu hoch rühmen dürfen, wenn wir den äußerlichen Götzendienst abgeschafft haben, während es doch noch viele Fürsorge fordert, die verborgene Gottlosigkeit der Herzen bis auf die Wurzel auszurotten.

Du rühmest dich des Gesetzes, und schändest Gott durch Übertretung des Gesetzes. – Jeder Mensch, welcher das Gesetz übertritt, schändet Gott; denn wir sind alle dazu geschaffen, den Herrn durch Gerechtigkeit und Heiligkeit zu ehren. Aber die Juden trifft mit Recht ein besonderer Vorwurf. Sie rühmten sich Gottes als ihres Gesetzgebers, aber ihr Leben nach Seinem Gesetze zu gestalten, dafür zeigten sie geringen Eifer. Damit bewiesen sie, dass ihnen an Gottes Majestät, die sie so leichtfertig verachteten, in der Tat nicht viel gelegen war. So machen auch viele unter uns dem Herrn Christus Unehre, indem sie über die Lehre des Evangeliums ein müßiges Geschwätz führen, dabei aber in ihrer zügellosen Lebensweise das Evangelium mit Füßen treten.

Denn „eurethalben wird Gottes Name gelästert unter den Heiden“, wie geschrieben steht. – Ich glaube, dass dieses Schriftwort aus Hesekiel 36.20-23 entnommen ist, nicht aus Jesaja 52.5. Denn die letztere Stelle enthält weiter nichts von Vorwürfen gegen die Juden, während das 36. Kapitel des Propheten Hesekiel ganz von solchen angefüllt ist. Wir sehen, dass alle Flecken des Volkes Israel auf Gott selbst zurückfallen. Israel ist und heißt Gottes Volk, es trägt sozusagen Gottes Namen auf seiner Stirn geschrieben; so muss bei den Menschen der Gott, auf dessen Namen es sich beruft, unter Israels Schmach gewissermaßen mit leiden. Es ist ein unwürdiger Zustand, dass dieselben Leute, die Gottes Ruhm für sich entlehnen, dem heiligen Namen Gottes einen Schandfleck anhängen. Sie wären schuldig gewesen, ihrem Gott einen besseren Lohn zu erstatten.