Das Bildnis des Dorian Gray

von Oscar Wilde

 

Verlag: Insel Taschenbuch

 

Leseprobe

„Du wirst mir wieder sitzen?“
„Unmöglich!“
„Du vernichtest mein Dasein als Künstler mit Deiner Weigerung, Dorian. Niemand ist je zwei Idealen im Leben begegnet. Wenige haben eines getroffen.“
„Ich kann es Dir nicht erklären, Basil, aber ich darf dir nie wieder sitzen. Es ist etwas Verhängnisvolles um das Bild eines Menschen. Es hat sein eigenes Leben in sich. Ich werde zu dir kommen und Tee mit die trinken – das wird ebenso schön sein.“
„Für dich schöner, fürchte ich“, sagte der Maler in schmerzlichem Ton. „Und nun leb wohl. Ich bin traurig, dass du mich das Bild nicht noch einmal sehen lassen willst. Aber ich kann’s nicht ändern. Ich verstehe völlig, was für eine Empfindung du dabei hast.“

Als er das Zimmer verlassen hatte, lächelte Dorian Gray. Armer Basil! Wie wenig er den wahren Grund ahnte! Und wie seltsam es war, dass es ihm fast wie durch Zufall gelungen war, anstatt sein eigenes Geheimnis zu verraten, dem Freunde das seine zu entreißen! Wie viel erklärte ihm dieses seltsame Bekenntnis! Die absurden Eifersuchtsanwandlungen des Malers, seine wilde Hingebung, seine ausschweifenden Bewunderungshymnen, die Stimmungen seltsamer Schweigsamkeit – das alles verstand er jetzt, und er wurde traurig. Es schien ihm etwas Tragisches um eine Freundschaft zu sein, die so von Romantik gefärbt war. Er seufzte und klingelte. Das Bild musste unter allen Umständen versteckt werden. Er konnte sich nicht noch einmal einer solchen Gefahr der Entdeckung aussetzen. Es war Wahnsinn von ihm gewesen, das Bild auch nur eine Stunde lang in einem Zimmer zu lassen, zu dem alle seine Freunde Zutritt hatten.

(Ausschnitt aus: Oscar Wilde – Das Bildnis des Dorian Gray; Insel Taschenbuch)

 

Inhalt

Als Dorian Gray dem Maler Basil Hallword Portrait steht, lernt er Lord Henry Wotton kennen. Dieser zeigt dem Jüngling immer neue Neigungen und Möglichkeiten auf und erweckt bei ihm das Verlangen nach den Freuden und Abwechslungen des Lebens. Erst zögernd, dann im Rausch und später mit brutalem Egoismus lebt Dorian Gray sein Leben – und altert nicht! Weder die Zeit noch sein Lebenswandel führen dazu, dass er sich äußerlich verändert. Und dieses Geheimnis der „ewigen Jugend“ ist sein tunlichst gehütetes Geheimnis, gekoppelt an ein Portrait, welches Basil von ihm gemalt hat…

 

Biographie

Oscar Wilde wurde 1854 in Dublin geboren, wo er auch von 1871 bis 1874 am Trinity Collage klassische Literatur studierte. Anschließend führte er seine Studien bis 1878 in Oxford weiter. In den Folgejahren unternahm er insbesondere Vortragsreisen in die USA. Oskar Wilde unterhielt neben seinem Ehe- und Familienleben verschiedentlich Beziehungen zu Männern, was ihn später zu gesellschaftlichen Problemen und schlussendlich für zwei Jahre ins Gefängnis führte. Nach dieser Zeit, die ihn gesundheitlich schwer schädigte, verließ er England und lebte bis zu seinem Tod 1900 in Paris.

 

Bewertung

Das Bildnis des Dorian Gray ist der einzige Roman Oskar Wildes und umfasst sowohl autobiographische Züge als auch vielfältige Einflüsse, angefangen von der Antike bis hin zum französischen Symbolismus. Dabei zeigt sich eine Vielschichtigkeit, die dem Leser den Einblick in das (dekadente) Leben des viktorianischen Englands gibt. Besonders die anfängliche harmonische Idylle, die das Leben der Personen umschreibt, gerät in einen Sog von sich immer stärker zuspitzenden Geschehnissen, die den Leser mit sich reißen. Ein gleichermaßen fesselnder wie auch erschreckender Roman, der meiner Meinung nach in jede Bibliothek gehört, da er sich auch recht gut lesen lässt. Sehr, sehr gut!